Erinnerungen sind keine Einbildungen: Die Ausstellung Past Perfect von Michał Solarski & Tomasz Liboska in Berlin
Erinnerungen sind keine Einbildungen: Die Ausstellung Past Perfect von Michał Solarski & Tomasz Liboska in Berlin

Erinnerungen sind keine Einbildungen: Die Ausstellung Past Perfect von Michał Solarski & Tomasz Liboska in Berlin

KVOST – der Kunstverein Ost in Berlin-Mitte – zeigt die Ausstellung Past Perfect mit über 30 Arbeiten der Fotografen Michał Solarski (*1977) und Tomasz Liboska (*1976), die sie an Orten ihrer Kindheit und Jugend aufgenommen haben.

Von Urszula Usakowska-Wolff

Der Titel Past Perfect ist nicht zufällig, weil das Hauptthema der drei ausgestellten Fotoserien: Hungarian Sea von Michał Solarski, Melody No 7 von Tomasz Liboska und ihres gemeinsamen Werks Cut It Short die Vergangenheit ist. Beide Künstler kamen in der polnischen Landgemeinde Goleszów im Schlesischen Vorgebirge zur Welt. Sie sind auch heute eng befreundet, obwohl der eine in London und der andere in Chorzów lebt. Cut It Short ist ein Doppelporträt der Künstler als junge Männer, verkörpert durch zwei Laienmodels, mit denen sie nach Goleszów reisten, um ihre Erinnerungen an die Zeit der Pubertät zu bebildern: die erste Liebe, die ersten sexuellen Erfahrungen, bei denen Mann manchmal kalte Füße und eins auf die Nase kriegt, die Rebellion gegen Erwachsene, die erste eigene Grunge-Band, Träume von einem Leben unterm Sternenbanner. Ist das Kaff, in dem Teenagern solches widerfährt, noch so klein, ihre Probleme sind allgemein. Die Fotoserie Cut It Short veranschaulicht auf eine sensible, unaufdringliche und leicht verständliche Weise, dass Erinnerungen keine Einbildungen sind:

»Als wir über dieses Projekt sprachen, merkten wir, dass die Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit in Goleszów fast deckungsgleich waren. Deshalb entschieden wir uns, die Vergangenheit mithilfe von Dominik und Marek, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit uns von damals haben, zu reaktivieren«,

sagt Michał Solarski.

Michal Solarski und Tomasz Liboska, 2019. Foto © Usakowska-Wolff
Michal Solarski und Tomasz Liboska, 2019. Foto © Usakowska-Wolff

Hungarian Sea

Manchmal ruft ein Mangel die Vergangenheit auf den Plan. So fiel Solarski beim Durchblättern der Familienalben auf, dass sich dort nur ein einziges Foto vom Plattensee befindet, wo er mit seinen Eltern und seiner Schwester in den 1980er Jahren wiederholt mehrere Wochen im Sommer verbrachte. Also machte er sich 2010 von London nach Siófog, die größte Stadt am Balaton auf, »um Fotos zu machen, die meine Eltern nicht gemacht haben.« Entstanden ist seine Serie Hungarian Sea, in der er mit viel Sympathie und ein bisschen Melancholie das Urlaubsleben zeigt. Seine Fotografien sind keine Inszenierungen, obwohl sie manchmal so wirken: »Ich gehe generell sehr viel zu Fuß. Wenn ich etwas interessant finde, bleibe ich stehen und bitte um Erlaubnis, ein Foto zu machen. Die meisten Leute willigen prompt ein.« So wie die beleibte Blondine im ziegelroten tief ausgeschnittenen Badeanzug, die selbstbewusst in die Kamera blickt.

»Ich erinnere mich gern an Ungarn, denn wir hatten damals den Eindruck, in keinem kommunistischen, sondern in einem freien westlichen Land, fast in einem Paradies zu sein«, sagt der Künstler. »Hungarian Sea ist mein Versuch, das heutige Geschehen mit den Augen eines kleinen Jungen zu sehen. Mein Eindruck ist, dass Balaton sich kaum verändert hat. Abgesehen davon, dass die Betonvillen von Castro, Breschnew und Honecker heute Ruinen sind, ist die Atmosphäre so wie damals. Aber ich habe mich verändert, bin erwachsen geworden, und für mich ist die Ungarische See kein Paradies mehr.«

Tomasz Liboska, "Melody No 7", KVOST, 2019. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Tomasz Liboska, „Melody No 7“, KVOST, 2019. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Ergreifende Melodie

Obwohl die Fotoserie Melody No 7 von Tomasz Liboska auf den ersten Blick unspektakulär aussieht, erzählt er darin ein unbekanntes, ergreifendes Kapitel aus seiner eigenen Geschichte. 2009 fand er heraus, dass sein angeblicher Onkel, der ihm zum siebten Geburtstag eine Armbanduhr schenkte, in Wirklichkeit sein Vater war. Nach seinem Tod erfuhr er, dass er seine Mutter unmittelbar vor seiner Geburt für immer verlassen hatte. Unter den wenigen Sachen, die am Sterbeort gefunden wurden, waren ein Foto von Antoni Liboska und ein Häuschen aus Streichhölzern. Tomasz erinnerte sich, dass er als Kind bei seiner Großmutter damit gespielt hatte.

»Ich musste diese Serie machen, das war für mich eine Art Therapie. Danach kehrte wieder Ruhe in mein Leben ein. Aber ich arbeite bereits an der nächsten Melody«,

sagt der Fotograf.

Einer Melodie, die noch tiefer in seine Vergangenheit dringt, denn sie wird die Nummer 6 tragen.

Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff

Michał Solarski & Tomasz Liboska
Past Perfect

KVOST
Leipziger Straße 47 / Jerusalemer Straße, 10117 Berlin-Mitte
20.02.-30.03.2019
Mi – Sa 14 bis 18 Uhr, Eintritt frei

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