Der halluzinogene Urin der Rene oder wie Carsten Höller in eine andere Sphäre eintaucht
Der halluzinogene Urin der Rene oder wie Carsten Höller in eine andere Sphäre eintaucht

Der halluzinogene Urin der Rene oder wie Carsten Höller in eine andere Sphäre eintaucht

Der kleine Hirsch mit den großen, braunen Augen bleibt vor dem runden Futtertrog stehen, dreht den Kopf und blickt etwas verdattert, ja, ein wenig vorwurfsvoll auf die vielen Menschen hinter dem weißen Zaun, die ihn begaffen, fotografieren und filmen: Guck hin, eine tierische Sensation, vielleicht Rudi, eines von zwölf lebenden Rentieren, die passend zur Vorweihnachtszeit in Berlin Station machen. Ist das die Herde von Joulupukki, dem berühmten finnischen Weihnachtsmann, der in diesem Jahr etwas eher in die deutsche Hauptstadt gekommen ist, um alle Kinderwünsche zu erfüllen? Sind wir auf einem Weihnachtsmarkt? Im Zirkus? Im Zoo? Nein, die „zwölf männlichen, kastrierten Rentiere“ sind Exponate und Teil der „Werkliste“ von „Soma“, einer Ausstellung von Carsten Höller, die seit dem 5. November 20011 im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart in Berlin bestaunt werden kann.

Carsten Höller, Detail der Ausstellung „Soma". Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Carsten Höller, Detail der Ausstellung „Soma“. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Big Brother der Fliegen

Die Besichtigung der großen Halle des Hamburger Bahnhofs, die der 1961 in Brüssel geborene und in Stockholm und Köln lebende Künstler in einen Auslauf für vier- und zweibeinige Lebewesen verwandelt hat, bereitet Erwachsenen und Kindern tierisches Kunstvergnügen. So viele echte Rentiere aus der Uckermark, die sich manchmal vor den neugierigen Augen des Publikums knipsreif balgen; 24 zwitschernde Kanarienvögel, zur Hälfte Weibchen und Männchen, auf zwei Volieren verteilt, die eine Waage bilden; vier süße weiße und vier süße schwarze Mäuschen in zwei weißen und zwei schwarzen Mäuschenhäuschen; zwei „nicht geschlechtsbestimmte Stubenfliegen“, deren Tun von zwei Kameras nach Art von Big Brother auf acht Monitore projiziert wird; darüber hinaus acht Gefrierkuben und zwei Kühlschränke, in denen echte Fliegenpilze aufbewahrt werden; eine große Skulptur giftiger und essbarer Pilze aus Kunstharz, Plastik und Edelstahl; Urinbehälter und andere Laborutensilien; eine Tribüne am Anfang der Halle sowie eine Empore mit einem runden, schwarzbezogenen, weißen Bett in der Mitte, in dem man einzeln oder zu zweit nächtigen kann. Dieses einmalige Schlafvergnügen im tierischen Kunstgehege, wofür das Museum mit einem eigens dafür eingebauten Badezimmer ausgestattet wurde, kostet satte eintausend Euro, doch es scheint, dass die „Soma“-Macher in Zusammenarbeit mit der Nobelherberge InterContinental Berlin eine Kunstmarktlücke entdeckt haben, denn alle achtzig Nächte sind ausgebucht. Zwar liegt das „schwebende Schlafzimmer“ vom „hochwertig designten“ Badezimmer mit dem stillen Örtchen recht weit entfernt, doch, wenn man schon das Bedürfnis hat, lohnt es sich, für Kunst Blase und Darm zu trainieren. Zumal der Erlös der teuren Museumsnächte einem guten Zweck dient: Er fließt in die Kasse des Vereins der Freunde der Nationalgalerie, damit dessen Vorsitzende Christina Weiss und ihr Team auch in Zukunft Ausstellungen verwirklichen können, die „uns nicht einmal in unseren Träumen möglich erschienen.“ Ein anderer Traum wurde ebenfalls wahr: Die Schering Stiftung schenkte dem Hamburger Bahnhof ein „phi-phänomenales“ Werk von Carsten Höller, das künstliche „Rentier im Zöllnerstreifenwald“ aus vielen, in der Dunkelheit blinkenden, roten und grünen Glühlampen, eine Art tierischer Weihnachtsbaum.

Carsten Höller, Detail der Ausstellung „Soma". Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Carsten Höller, Detail der Ausstellung „Soma“. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Soma-Saft der Samen

„In der ‘Soma’-Ausstellung geht es vor allem darum, ein lebendes Bild zu zeigen, in das man eintauchen kann wie in eine andere Sphäre, was zur Wahrnehmungs- und Bewusstseinserweiterung beiträgt“, sagt Carsten Höller. Es ist promovierter und habilitierter Agrarwissenschaftler, der sich in seinem ersten Beruf für Pflanzenkrankheiten und Geruchskommunikation der Insekten interessierte. Als er die Laufbahn eines Aufsehen erregenden Künstlers wählte, wandte er sich größeren Tieren zu: Zusammen mit Rosemarie Trockel baute er 1997 ein „Haus für Schweine und Menschen“ für die documenta X in Kassel. Nur für Menschen ließ er 2006 in der Turbinenhalle der Tate Modern in London eine Riesenrutsche errichten. Ende 2008/Anfang 2009 und in der ersten Hälfte 2010 konnten zahlungskräftige Kunstliebhaber in seinem „Drehenden Hotelzimmer“ im New Yorker Guggenheim und dem Museum Boijmans Van Beuningen in Rotterdam übernachten sowie mit der Taschenlampe die Sammlungen besichtigen. Was sich woanders bewährte, kann in Berlin auch nicht scheitern, deshalb strömen täglich sechstausend Schaulustige in den Hamburger Bahnhof, um sich an „Soma“ zu berauschen. So hieß der legendäre Zaubertrank der indogermanischen Veden im 2. Jahrtausend vor Christi, der aus einer bisher nicht identifizierten Pflanze gebraut wurde und den Menschen Glück, Siegeskraft und Zugang zur göttlichen Sphäre bescherte. Es könnte der Fliegenpilz gewesen sein, der auch die indigenen Völker in Sibirien und die Samen im Nordosten Skandinaviens in eine solche Ekstase versetzte, dass sie den Eindruck hatten, fliegen zu können. Dieser schöne rote Pilz mit weißen Pünktchen auf dem Hut, für Menschen ungenießbar und giftig, ist ein Leckerbissen für Rentiere. In ihrem Urin wird er von Schadstoffen gereinigt. Manche Hobbyforscher, wie der von Carsten Höller und seiner Kuratorin Dorothée Brill verehrte US-amerikanische Banker Gordon R. Watson, der 1968 ein Buch über den Fliegenpilz verfasste, meinen, dass Rentierurin eben jener Saft war, dessen Konsum die Samen glücklich machte.

Carsten Höller, Detail der Ausstellung „Soma“. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Erste Phase mit weißen Mäusen

Die „Soma“-Schau im Hamburger Bahnhof kommt ganz ohne Samen aus. Sie ist wie ein Doppelblindversuch angeordnet, wobei ungewiss bleibt, ob der nach dem Genuss des rot-weißen Pilzes halluzinogene Urin der zwölf Rene, welcher von Carsten Höllers Assistenten in Urinbehältern gesammelt wird (um der Kunst dienlich zu sein, dürfen heute manche Leute wahrlich vor nichts zurück schrecken!), den Kanarienvögeln, Mäusen und Fliegen verabreicht wird. Der Künstler erklärt: „Unklarheit ist das Wichtigste in dieser Ausstellung.“ Direktor Udo Kittelmann erläutert: „Wir wollen keinen Soma finden. Wir wollen den Leuten vor allem Zugang zu den Tieren verschaffen, damit sie erfahren, was die Tiere machen. Wir sind ja schließlich in einem Kunstmuseum.“ Also keine Angst: Sollten Sie eines Tages im Hamburger Bahnhof weiße Mäuse sehen, leiden Sie aller Wahrscheinlichkeit nach an keinem Delirium tremens. Sie besichtigen eine psychoSOMAtische Ausstellung und befinden sich in der „ersten Phase auf dem Weg zur Erforschung einer anderen Welt, einer alternativen Wirklichkeit“, worüber der Wandtext keinen Zweifel aufkommen lässt.

Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff
Erschienen im strassen|feger 25 / 2010

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