Man spürt den Blick zurück über die Schulter, den kühlen Durchzug von der aufgerissenen Tür her. Man hört die Stiefel auf dem Parkett, den dumpfen Schlag des umgeworfenen Stuhls. Man riecht die letzte Mahlzeit, die auf diesem Tisch stand, und den Schweiß er Angst.
»Der verlassene Raum« ist das stärkste Denkmal des Berliner Bildhauers Karl Biedermann im öffentlichen Raum. Es steht am Koppenplatz, mitten in der Spandauer Vorstadt, mitten im früheren Scheunenviertel. Hier zwang 1737 der preußische König die Juden ohne eigenes Haus sich niederzulassen. Hierher zog es die zuwandernden Juden aus Osteuropa. Hier gab es schon 1923 ein erstes offenes Pogrom.
»Der verlassene Raum« ist ein leises Denkmal. Es fällt nicht auf. Ein einfacher Tisch mit gedrechselten Beinen und einer geschlossenen Schublade. Die Tischplatte ist leer. Auf der einen Seite steht ein Stuhl am Tisch, ein zweiter Stuhl ist umgeworfen, liegt am Boden. Es ist Gewalt geschehen. Die Opfer sind vertrieben, verschleppt, vernichtet. Die Täter sind verborgen, weitergezogen. Hier hat ein Drama stattgefunden, nein, ein Verbrechen. Wer an diesem verlassenen Raum steht, wird Zeuge des Geschehens, muss Partei ergreifen.
Wer das monumentale Denkmal für ermordeten Juden Europas am Brandenburger Tor besucht, soll auch hier an den Koppenplatz kommen, wo das unfassliche Verbrechen der Shoah aufs Menschliche herunterdekliniert wird. Da ist nichts mehr unfassbar.
Am Denkmal Verse von Nelly Sachs: »O die Wohnungen des Todes / einladend hergerichtet / für den Wirt des Hauses, der sonst Gast war / O ihr Finger, – die Eingangsschwelle legend / wie ein Messer zwischen Leben und Tod – / O ihr Schornsteine, / o ihr Finger, / und Israels Leib im Rauch durch die Luft.«
Karl Biedermann wurde 1947 in Berlin geboren. Er studierte an der HfBK in Dresden und der Kunsthochschule Weißensee, arbeitet seit 1978 in Berlin als Bildhauer. Plastiken von ihm sind im öffentlichen Raum zu finden: das Bonhoeffer-Denkmal an der Zionskirche, die Stelen für Peter Fechter in der Zimmerstraße und Chris Gueffroy am Baumschulenweg, die Plastik »Hier werde ich spuken« in der Ringelnatz-Siedlung.
Text © Manfred Wolff (1941-2023), 2020
Fotos © Urszula Usakowska-Wolff