Großer Bahnhof für eine Große Oper mit zwei Großen Opern-Damen in einem ausverkauften Großen Haus: Am 9. März 2024 feierte das multimediale Spektakel unter der Titel »Пиковая дама – Pique-Dame« an der Deutschen Oper Berlin Premiere. Die neueste Inszenierung von Tschajkowskijs Musikdrama läuft in großer Besetzung über die Bühne und ist an Opulenz kaum zu überbieten: 250 Kostüme wurden vom Ausstatter Stuart Nun entworfen und von der Opernwerkstatt gefertigt, darunter ausgefallene pastellige Abendkleider aus fließendem Stoff, aufreizende Negligés und Mitternacht-Manteaux, mit Posamenten und Orden geschmückte Uniformen aus feinstem Tuch, spektakulärer Kopfschmuck, Pumps, Stiefel, Handschuhe. Die Gräfin (alias Pique Dame) hat ein Faible für Strass-Juwelen, die ihren Hals, ihre Ohren und Finger zieren. Ihre Enkelin Lisa ist immer bebrillt, auch wenn man nicht weiß, welche Rolle das spielt. Nicht zu übersehen sind in dieser verschwenderischen Pracht-Garderobe eine üppige Rokoko-Robe und ein Kadett-Ballett-Quintett, das sexy Strapse trägt. Es wirbelt darin so nonchalant, als sei seine Kluft aus Barry Koskys Hand. Die Neuauflage der monumentalen Oper von Pjotr I. Tschajkowskij über Sucht, Gier, vermeintliche oder echte Liebe und Wahn, die zu einem tragischen Ende führen, ist aber das Werk des britischen Regisseurs Sam Brown, sein Debüt an der Deutschen Oper Berlin, einer der größten Opernbühnen Europas. Ursprünglich sollte »Pikowaja Dama« von Graham Vick, der am 17. Juli 2021 im Alter von 67 Jahren an den Folgen einer COVID-19-Erkrankung starb, inszeniert werden.
Der Komponist und sein Librettist
»Pikowaja Dama« ist eine Oper in drei Akten mit sieben Bildern, zu der das Libretto der Schriftsteller und Dramatiker Modest Tschajkowskij, jüngerer Bruder des berühmten russischen Komponisten, nach der gleichnamigen gotischen Novelle von Alexander Puschkin schrieb. Fasziniert von der gespenstisch-fantastischer, Unheil verkündenden Atmosphäre und der psychologisch-realistischen Darstellung des Offiziers Hermann, der als Fremder mit niedriger Herkunft auf seine Weise versucht, die Klassenschranken zu überwinden und als reicher Mann in die höchsten Gesellschaftskreise von Sankt Petersburg aufzusteigen, verlegte er die Handlung aus dem frühen 19. Jahrhundert in die Spätzeit Katharinas der Großen und fügte die Figur des Fürsten Jeletzkij, Lisas Verlobten, sowie die Szene an der Newa (in die sich Lisa stürzt und ertrinkt) hinzu. Im Gegensatz zu Puschkins Original, in der eine junge Frau namens Lisaweta Iwanowna auftritt, die schnell entdeckt, dass Hermann vorgibt, sie zu lieben, um in die Nähe der »Pique Dame« genannten alten Gräfin, die ihre Erzieherin ist, zu kommen und ihr ein Kartengeheimnis zu entlocken, heißt sie in Tschajkowskijs Oper einfach Lisa. Sie ist keine Pflegetochter der alten Aristokratin mehr, sondern ihre Enkelin, die am Anfang von Hermann wirklich geliebt wird. Während es in Puschkins Novelle »nur« ein Todesopfer, nämlich die »Pique Dame« gibt, und, wie im Epilog zu lesen, Hermann wahnsinnig geworden ist, Lisaweta Iwanowna einen sehr netten jungen Mann, den ehemaligen Vermögensverwalter der Gräfin, geheiratet hat und – der Familientradition folgend – eine arme Verwandte erzieht, endet das Musikstück mit einer doppelten Tragödie: Lisa und Hermann nehmen sich das Leben, ihrem Schicksal unausweichlich ergeben.
Beim Grabgesang für Hermann geweint
Pjotr I. Tschajkowskij komponierte die »Pique Dame« im Frühjahr 1890, drei Jahre vor seinem Tod, in Florenz in nur 44 Tagen. An seinen Bruder Modest schrieb er am 15. März:
Die Oper habe ich vor 3 Stunden abgeschlossen (…) Ich habe sie in der Tat mit Liebe geschrieben. Gott, wie habe ich gestern beim Grabgesang für meinen armen Hermann geweint! Ich glaube einstweilen fest daran, dass die PIQUE DAME ein gutes und, namentlich, ein originelles Werk ist (nicht nur in musikalischer Beziehung, sondern überhaupt).
Briefzeugnisse von Pjotr Iljitsch Tschajkowskij, Programmheft der Deutschen Oper Berlin, S. 45
Uraufgeführt wurde die Oper am 19. Dezember 1890 am Marjiinski-Theater in Sankt Petersburg. Obwohl die »Pique Dame« aus einer Zeit stammt, die sich von unserer Gegenwart so sehr unterscheidet, ist sie stets aktuell. Heute vielleicht mehr denn je, denn sie zeigt die Abgründe des menschlichen Handelns: Rücksichtslosigkeit in der Verfolgung eigener Ziele, das Bedürfnis, sich zu bereichern, das alle andere Bedürfnisse wie Moral, Liebe und Anstand überlagert und verdrängt, die Benutzung anderer Menschen für seine eigenen Ziele, die Unmöglichkeit des sozialen Aufstiegs, wenn man aufgrund seiner Herkunft oder Verhaltensweise zu den Underdogs zählt. Hinzu kommt, dass Hermann als Sohn eines zum Russen gewordenen Deutschen für seine Kameraden immer ein Fremder bleibt.
Bei Hermann bricht sich der Wahn allmählich Bahn
Sam Browns Inszenierung der »Pique Dame« an der Deutschen Oper Berlin ist ein in visueller und musikalischer Hinsicht gelungenes Werk, das man lange in Erinnerung behält. Fast alle Szenen muten wie Tableaux vivants an, sind sehr malerisch und scheinen an vielen Stellen Zitate aus der Kunstgeschichte zu sein. Das Bühnenbild der Oper in den Szenen, die im Freien spielen, besteht aus Fassaden prunkvoller Paläste mit reich verzierten Glasfenstern, Portalen, Kolonanden, Balustraden und Treppen, die an die Architektur von Sankt Petersburg anknüpfen. Die Kostüme und Möbel sind mit einigen wenigen Ausnahmen im Empirestil gehalten. Laut dem Motto »Kleider machen Leute« ist die gesellschaftliche Position der Figuren, vor allem die von Hermann, leicht zu erkennen. In seiner schlichten Schirmmütze, dem schweren Mantel und der abgenutzten Lederhose sieht er wie ein Proll aus. Mit zerzaustem Haar und nicht perfekt rasiertem Bart wirkt er ungepflegt: wie ein Sonderling, der sich um sein Outfit nicht kümmert oder nicht kümmern kann. Es war eine gute Wahl, für diese Rolle Martin Muehle zu gewinnen. Der brasilianische Tenor mit deutschen Wurzeln gibt einen überzeugenden Hermann, der in kurzer Zeit zu einem Besessenen wir. Auf die anderen Offiziere macht er einen seltsamen Eindruck, weil er nur beobachtet, wie sie Karten spielen, ohne am Spiel selbst teilzunehmen. Als er erfährt, dass die von ihm geliebte Lisa Enkelin einer Gräfin ist, die das Geheimnis hütet, auf welche Karten man setzen soll, um Geld zu gewinnen, dreht er allmählich durch und benutzt Lisa, um an die alte Dame heranzukommen. Er agiert wie ein Besessener, singt sich in Rage, angetrieben von der Idée fixe, von ihrem geheimen Wissen zu profitieren, um als reicher Mann mit seiner Geliebten angemessen leben zu können und von den anderen als ebenbürtige Person anerkannt zu werden. Martin Muehle zeigt, wie der Wahn sich allmählich Bahn bricht und wie daran alles in ihm und um ihn herum zerbricht.
Frisch, verführerisch, diabolisch
Lisa, die in der »Pique Dame“ ein junges, verliebtes, von bösen Vorahnungen, Zweifeln und von der despotischen Gräfin gequältes Mädchen verkörpern soll, wird von Sondra Radvanovsky interpretiert, einer US-amerikanischen Sopranistin, die in den bedeutendsten Opernhäuser der Welt vor allem im italienischen Repertoire auftritt und das Publikum immer wieder begeistert. In der Berliner Inszenierung konnte sie sich nicht so richtig entfalten, ihre Stimme klang stellenweise nicht so energisch und jugendlich, wie von dieser Rolle erwartet. Vielleicht lag es daran, dass sie aus nicht nachvollziehbaren Gründen, eine Brille tragen musste, auch dann, wenn sie keine Bücher las oder in ihrem kargen Dachbodenkämmerlein im Kerzenschein vergeblich auf ihren Geliebten wartete und sich mit bösen Vorahnungen marterte. Der unbestrittene Star der Premiere war die Mezzosopranistin Doris Soffel, die im letzten Augenblick für eine andere Sängerin eingesprungen war. Sie sollte in die Rolle einer über 80-jährigen, zwar noch immer gepflegten, aber gebrechlichen Greisin schlüpfen. Die von ihr gemimte und gesungene »Pique Dame« hat das Zeug dazu, in die Operngeschichte einzugehen. Stoffels Bühnenpräsenz, ihre starke, auch erotische Ausstrahlung, ihre Lässigkeit, mit der sie im schwarzen Negligé und einem aufreizenden Manteau auf einer Récamiere liegend Hermanns hitzigen Tiraden stumm und scheinbar unbeteiligt folgt, sind überwältigend. Eher hätte man in dieser erotisch aufgeladenen Szene den Anfang einer Amour fou, und nicht das Ableben dieser Grande Dame erwartet. Sie ist eher die »Venus moscovite«, wie sie vor langer Zeit als 20-Jährige in Paris genannt, begehrt und nicht selten erfolgreich umworben wurde. Unvergesslich auch das Bild, in dem sie als Geist Hermann das Kartengeheimnis enthüllt. Doris Stoffel ist einfach fantastisch: strahlend, frisch, verführerisch und, wenn´s sein muss – diabolisch. Es macht Spaß zu hören, wie sie zischt: »Drei, Sieben, As.« Die Enthüllung hilft Hermann aber letztendlich nicht viel, denn obwohl er am ersten und zweiten Spielabend gewinnt, zieht er am dritten Abend die falsche Karte: und zwar die wohl verhexte Pique Dame. Der Besuch der alten Dame endet auch diesmal, wie in einem einst bekannten und oft gespielten Theaterstück, tödlich.
Auf der Bühne vereint: alte und neue Zeit
Die Inszenierung dieser grandiosen Oper von Pjotr I. Tschajkowski wurde von Sam Brown und seinem Team als ein multimediales Gesamtkunstwerkt konzipiert. Die beiden Chöre singen wie immer wunderbar und sehen in ihren Kostümen blendend aus: ein wahres Fest für Augen und Ohren, akustisch und visuell einfach bezaubernd. Das beeindruckende Licht-Design und der meisterhafte Einsatz des Lichts, um die Stimmung der einzelnen Szenen zu steigern oder zu untermalen, die Neonröhren und Neonschriften, die im Dunkeln kühl und gespenstisch wie in einem (Alb-)Traum) irrlichtern, sind Linius Fellbom zu verdanken. Mit dem Bühnenbild und den Kostümen versucht Stuart Numm, womöglich verschiedene Zeiten unter ein Dach zu bringen. Das ist vielleicht eine Erklärung dafür, warum sowohl während der Aufführung als auch zwischen den Szenen, Akten und Pausen ein Video mit Stils und Sequenzen aus einem Stummfilm von 1916, der »Пиковая дама« in der Regie von Jakow Protasanow auf die Bühne projiziert werden. Diese Verfilmung von Tschajkowskijs »Pikowaja Dama« ist einer der besten Stummfilme aus dem vorrevolutionären Russland. Wenn man es schafft, ihm in dieser reizüberfluteten Opernperformance, die nebenbei auch zur Allgemeinbildung beiträgt, zu folgen, entsteht der Eindruck, in einem alten Kino zu sitzen und dem Orchester zu lauschen, das unter Leitung von Sebastian Weigle so schön, so harmonisch, so dramatisch, so einfühlsam spielt. Ja, das Leben ist ein (Licht)Spiel, doch manchmal eins zu viel.
Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff
Pikowaja Dama – Pique Dame >>>
Oper in drei Akten von Pjotr I. Tschaikowskij
Premiere am 9. März 2024
Deutsche Oper Berlin