Der am 4. Mai 2024 verstorbene Frank Stella schuf ein außergewöhnliches, von der Popkultur, Musik und Literatur inspiriertes Werk, das Gattungen, Begriffe und Maßstäbe sprengt und mit Worten kaum zu fassen ist. Konsequenz, Disziplin, Produktivität und eine fast obsessive Beschäftigung mit der Bildoberfläche, die er allmählich in den Raum ausdehnte, sind einmalig und einzigartig. Frank Stella war Bewohner und Gestalter des »Planeten Stella«, den er von Anfang an unbeirrt auf- und ausbaute, ohne auf die Stimmen der Kritik zu achten. Der am 12. Mai 1936 in Malden, Massachusetts, geborene Sohn eines Frauenarztes und einer Landschaftsmalerin studierte von 1954 bis 1958 Geschichte an der Princeton University im Bundesstaat New Jersey und zog anschließend nach NYC, wo er sich als Anstreicher den Lebensunterhalt verdiente. Unter dem Eindruck der »Fahnenbilder« von Jasper Johns, die er in der legendären Galerie von Leo Castelli gesehen hatte, begann er, großformatige Leinwände zu bemalen, auf denen er die amerikanische Fahne dekonstruierte. Aus den sieben gleichmäßigen und langen horizontalen roten Streifen wurden drei ungleichmäßige kurze Streifen, die Sterne verwandelten sich in drei helle pastöse Farbflächen, durch dunkle Streifen voneinander getrennt. Diese Bilder aus der Serie »Pre-Black Paintings« waren die Vorstufe der »Black Paintings« (1958-1960), die den Maler über Nacht zum gefeierten Kunststar machten.
Im Tunnel der Tafelbilder
Frank Stella, der Name verpflichtet, wurde unter einem guten Stern geboren. 1959 nahm er an der Aufsehen erregenden Gruppenschau »Sixteen Americans« im Museum of Modern Art teil. Mit 23 Jahren stand er bereits auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Seine »Schwarzen Bilder« wurden als ein wichtiger Beitrag zur Kunst des Minimalismus gefeiert. Doch der Begriff ist nicht ganz adäquat, denn das, was er vollbrachte, ist eher Ausdruck eines minimalen Maximalismus. Die riesigen schwarzen Oberflächen sind mit spärlichen hellen Linien durchsetzt, die ihnen eine unglaubliche Tiefen- und Raumwirkung verleihen. Das ist bei Stella kein Gegensatz, denn seine ersten konventionellen Tafelbilder gleichen einem Tunnel, der ins Bildinnere und von dort zurück an die Oberfläche führt. Die »Black Paintings« sind auch eine Auseinandersetzung mit dem »Schwarzen Quadrat« und dem »Weißen Quadrat« von Kasimir Malewitsch, den er besonders schätzte.
Quadratur des Kreises
Doch Stella begnügte sich nicht damit, seine Vorbilder in einem riesigen Rechteck zu vermengen. Seine Werkserien, die bis 1971 entstanden, sind eine Bild gewordene Quadratur des Kreises: immer bunter und opulenter, wofür ihn die Kunstkritik des Verrats am Minimalismus bezichtigte. Das hielt ihn nicht davon ab, den nächsten Schritt zu wagen: »Polish Village Series« (1971-1973) sind 130 reliefartige Collagen, die Frank Stella nach der Lektüre eines Buches über hölzernen Synagogen aus den polnischen Schtetlech, die von den Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg zerstört wurden, geschaffen hatte. Diese Serie war ein Durchbruch, denn sie leitete den Aufbruch und Ausbruch der Bilder von der Oberfläche in den Raum ein.
Dreißig Zentimeter zur Dreidimensionalität
»Ich nenne das, was ich mache Bilder, denn die meisten hängen an der Wand und sind 2,7-dimensional«, sagte der Künstler in der Pressekonferenz aus Anlass seiner großen Retrospektive im Kunstmuseum Wolfsburg am 8 September 2012. In den »Indian Bird Series« (1977-1979) und »Exotic Bird Series« (1976-1980) werden geometrische Figuren immer mehr durch ein organisch anmutendes Formengeflecht ersetzt, sodass Stellas luftige Kompositionen zu schwingen scheinen. Seine hybriden Werke, die er seit Anfang der 1980er fertigte, sind auch Bild gewordene Wunder der Technik, mit deren Hilfe alle denkbaren und undenkbaren Formen entworfen und hergestellt werden können. Diese Verfahren (wie etwa Selectives Lasersintern) und Stoffe zur Herstellung von industriellen Massenprodukten, zum Beispiel Protogen-Kunstharze und Karbonfasern, benutzte Frank Stella dazu, einmalige und einzigartige Kunstwerke zu gestalten, in denen er seine Bewunderung für Alte Meister zum Ausdruck brachte: für Melville (»Moby Dick Series«, 1986-1997, die, genauso wie der Roman, aus 135 Teilen besteht!), Kleist (»Heinrich von Kleist Series«, 1996-2008), den von Ralph Kirkpatrick Anfang der 1950er Jahre als Schöpfer vollwertigen Kompositionen wiederentdeckten Domenico Scarlatti (»Scarlatti Sonata Kirkpatrick«, seit 2006) sowie für alte Städte wie Maastricht (»Maastricht Series«, seit 2011).
Heinrich von Kleist: Bruder im Geist
Eines seiner spektakulärsten Werke ist »Der Zerbrochene Krug«, Stellas Hommage an das 1811 erschienene Lustspiel Heinrich von Kleists. Zu der geschwungenen, vibrierenden, beweglich wirkenden Form ließ sich der US-amerikanische Künstler von einer skurrilen Kopfbedeckung und von zwei alltäglichen Beobachtungen inspirieren. Während eines Urlaubs in Rio fand er am Strand von Copacabana eine spiralförmig geschnittene Sonnenkappe. Angeregt fühlte er sich auch von den Rauchkringeln seiner Zigarre und von den Schlieren, die entstehen, wenn man einen Tintentropfen ins Wasser träufelt: Kunst als Verschmelzung der Höhenflüge des menschlichen Geistes mit banaler Alltagsästhetik und Alltagsphysik.
Heros mit Humor
Der als »Heros und einer der größten abstrakten Künstler des 20. Jahrhunderts« apostrophierte Künstler war ein Star der internationalen Kunstszene aber Starallüren waren nicht sein Ding. Frank Stella wirkte bescheiden, locker und souverän. Er lachte häufig, hatte eine direkte einnehmende Art und einen wohltuenden Sinn für Humor. Was empfindet er, wenn er auf seine Anfänge zurückblickt? wurde er in der besagten Pressekonferenz im Kunstmuseum Wolfsburg gefragt. »Ich blicke lieber nach vorne, denn ich habe noch viel zu tun. Das, was hinter mir liegt, ist nicht so wichtig. Die alten Bilder gehören mir nicht mehr. Man muss sich von den Dingen trennen können. Es ist so wie mit den Kindern, die gehen auch irgendwann aus dem Haus.« Und ein Journalist, Mitte 20, wollte wissen: »Welche Ratschläge haben Sie für junge Künstler?« – »Dass sie nicht alt werden«, schmunzelte der Meister. Auch den Prozess der Formgebung erklärte er denkbar einfach: Er nahm die Fanta-Flasche, aus der er vorher die Hälfte getrunken hat, in die Hand – und zerknautschte sie. Und siehe da: Die vorhandene Form verwandelte sich unter dem Druck in eine andere.
Begehbare Skulpturen, zukünftige Architekturen
Der am 4. Mai 2024 im Alter von 87 Jahren verstorbene Frank Stella hinterlässt ein riesiges Œuvre, das bereits zu seinen Lebzeiten in die Kunstgeschichte einging und zugleich zukunftsweisend ist, denn er schöpfte die Ideen für seine Werke auch aus der Vergangenheit. Seine monumentale, doch filigrane und vibrierende Kunst entwickelte sich zunehmend in Richtung von begehbaren und bewohnbaren Skulpturen. Als pragmatischer Visionär und genauer Beobachter der Welt und der Entwicklungen, die sich darin anbahnen, ging er davon aus, dass, weil »die Künstler der Hochrenaissance Maler, Bildhauer und Architekten in einem waren, wird es nicht mehr lange dauern, bis Gebäude wie einige meiner Skulpturen aussehen.«
Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff
Alle Fotos wurden von Urszula Usakowska-Wolff in der Ausstellung »Frank Stella. Die Retrospektive. Werke 1958-2012« im Kunstmuseum Wolfsburg am 8. September 2012 gemacht.