Anfang gut, alle gut: Rebecca Raue, Nasan Tur und Katrin von Lehmann bei den ersten Kunsttagen Steglitz
Anfang gut, alle gut: Rebecca Raue, Nasan Tur und Katrin von Lehmann bei den ersten Kunsttagen Steglitz

Anfang gut, alle gut: Rebecca Raue, Nasan Tur und Katrin von Lehmann bei den ersten Kunsttagen Steglitz

Der gutbürgerliche Bezirk im Südwesten Berlins möchte zum Standort zeitgenössischer Kunst werden. Den Auftakt machen die am 11. und 12. April eröffneten Kunsttage Steglitz mit drei Einzelausstellungen: Notizen vom Rand der Zeit von Rebecca Raue im Gutshaus Steglitz, Back and Forth von Nasan Tur und Leerstellen des Unbekannten/Nichts stimmt mehr von Katrin von Lehmann in der Schwartzschen Villa.

Rebecca Raue, Nasan Tur und Katrin von Lehmann. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Rebecca Raue, Nasan Tur und Katrin von Lehmann. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Das Äußere und das Innere

Die Malerin und Objektkünstlerin Rebecca Raue (* 1976 in Berlin) verwandelt in ihrer poetischen und ein bisschen ironischen Soloschau Notizen vom Rand der Zeit das zu Beginn des 19. Jahrhunderts erbaute Gutshaus Steglitz in ein Museum, in dem sie sich auf subversive Weise mit den noch immer vorhandenen weiblichen und männlichen Rollenklischees auseinandersetzt. Darüber hinaus will sie auch etwas Wildheit in das klassizistische Bauwerk bringen. Sie zeigt dort eine Reihe von Papierarbeiten, darunter Collagen, deren Grundlage Bilder US-amerikanischer Maler aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind. Die Künstlerin übermalte sie an manchen Stellen, fügte neue Details hinzu, versah sie mit handschriftlichen Anmerkungen und neuen Titeln. In die Mitte des ersten Ausstellungsraums stellte sie sieben San-Pedro-Kaktusse: Sie sehen aus wie Phallusse, Symbole der stacheligen und aggressiven Männlichkeit. Notizen vom Rand der Zeit enden mit einer aus Stoff gefertigten Behausung, die einer Jurte oder einem Iglu ähnelt: Es ist ein Ort der Zuflucht und Geborgenheit für alle Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht.

Das imaginäre Innere des Iglus gibt keine Form vor, sondern bietet viel Raum für Individualität. Wir leben in einer Gesellschaft, die sich stark auf das Äußere bezieht. Ich halte es für eine gute Idee, damit zu beginnen, den inneren Raum zu erobern.«


Rebecca Raue im Gespräch mit Brigitte Hausmann, Katalog der Ausstellung Notizen vom Rand der Zeit, Revolver Publishing Berlin, S. 72
  • Rebecca Raue, Blick in die Ausstellung "Notizen vom Rand der Zeit", Gutshaus Steglitz, 2019. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
    Rebecca Raue, Blick in die Ausstellung "Notizen vom Rand der Zeit", Gutshaus Steglitz, 2019. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Hin und Her zwischen dem Vergessen und dem Erinnern

In der nahegelegenen Schwartzschen Villa, die im Februar 1898 eingeweiht wurde, stellt der Teilnehmer der documenta 14, Nasan Tur (* 1974 in Offenbach, lebt in Berlin) zwei bewegende Arbeiten aus. Seine Schau beginnt mit der Mehrkanal-Videoinstallation Back and Forth,in der er die aus Zeitungen ausgeschnittenen Fotografien ermordeter Journalistinnen und Journalisten in einer Endlosschleife zerknüllt und glättet. Es herrscht Stille, unterbrochen durch das Knistern des gemarterten Papiers. »Es geht darum, sich nicht nur an die Menschen auf den Fotografien zu erinnern, sondern vor allem an das, was sie repräsentieren, an ihre Rolle in der Gesellschaft und daran, dass sie für ihre Arbeit mit ihrem Leben bezahlt haben«, sagt der Künstler. »Für mich ist Erinnerung ein Widerstandsakt genauso wie das Nichtvergessen. Der Vorgang des Zerknüllens und des Glättens ist ein Hin und Her zwischen dem Verschwinden und dem Wiederherstellen, zwischen dem Vergessen und dem Erinnern.« Die zweite Arbeit von Nasan Tur, die in der Galerie der Schwartzschen Villa präsentiert wird, ist die Soundinstallation Speech, für die er aus den in den Medien live übertragenen Reden bekannter Politikerinnen und Politiker, darunter Angela Merkel und Wladimir Putin, alle Worte ausgeschnitten und nur ihr Atmen, Schlucken und Räuspern gelassen hat. Es ist ein groteskes Hörspiel, denn die Mächtigen sind, was man vernimmt, mitnichten Automaten. Einerseits haben sie, wie jede(r) von uns, keine Macht über ihre Reflexe, andererseits werden sie vom stürmischen Applaus begleitet. Die Massen huldigen ihnen unabhängig davon, ob sie viel oder nichts zu sagen haben.

  • Nasan Tur vor "Back and Forth", Schwartzsche Villa, 2019.Foto © Urszula Usakowska-Wolff
    Nasan Tur vor "Back and Forth", Schwartzsche Villa, 2019.Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Meisterliche Striche

Auch Katrin von Lehmann (* 1959 in Berlin), die im Atelier der Schwartzschen Villa über einen Monat lang arbeitete, befasst sich mit aktuellen Themen. Die Inspiration für ihre grandiosen Zeichnungen aus dem 2015 begonnen Zyklus Leerstellen des Unbekannten/Nichts stimmt mehr ist die Wissenschaft, konkret die Ergebnisse der Humangenomforschung, die den bisherigen Wissensstand in Zweifel ziehen: Der Mensch ist kein so außergewöhnliches und den anderen Kreaturen überlegenes Lebewesen, weil in etwa 60 Prozent seiner Gene mit denen der Fruchtfliege (Drosophila) vergleichbar sind. Katrin Lehmanns Zeichnungen sind, was man schon auf den ersten Blick sieht, außergewöhnlich: kleine und große Meisterwerke aus unzähligen Strichen auf Papier, auf dem organische Formen, die mit Härchen oder Tentakeln bewachsen zu sein scheinen, sprießen. Dass sie mit Buntstiften ein solch faszinierendes Universum schafft, ist wahre Kunst.

  • Katrin von Lehmann, temporäres Atelier in der Schwartzschen Villa, 2019. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
    Katrin von Lehmann, temporäres Atelier in der Schwartzschen Villa, 2019. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff

Rebecca Raue: Notizen vom Rand der Zeit
bis 23. Juni 2019
Gutshaus Steglitz, Schloßstraße 48 ,12165 Berlin
Mo – So von 10 – 18 Uhr, Eintritt frei

Nasan Tur: Back and Forth
bis 10. Juni 2019

Katrin von Lehmann:
Leerstellen des Unbekannten/Nichts stimmt mehr
bis 5. Mai 2019
Schwartzsche Villa, Grunewaldstraße 55, 12165 Berlin


Mo – So von 10 – 18 Uhr, Eintritt frei

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