Der heutigen Zeit, die uns mit optischen und akustischen Reizen überflutet, sodass wir die Orientierung und den Sinn für das Wesentliche verlieren, setzt Constanza Carvajal ihre Kunst entgegen, die zum Innehalten, zur Besinnung und Muße einlädt. Eine repräsentative Auswahl ihrer vom Textilhandwerk inspirierten Objekte ist noch bis zum 29. September 2024 in der Einzelausstellung »cantos blandos – weiche kanten« im Projektraum art.endart in Berlin-Wedding zu sehen. Das Publikum ist eingeladen, mit den Kunstwerken in direkten Kontakt zu treten, darauf Platz zu nehmen, sich mit anderen Besucherinnen und Besuchern zu unterhalten und sich geborgen zu fühlen: Um gemeinsam einen lebendigen Ort der Kommunikation zu kreieren, in dem Raum, Objekt und Mensch eine Einheit bilden.
Interventionen, Aktionen & Installationen
Die in Berlin lebende chilenische Künstlerin Constanza Carvajal schafft ein Genre überschreitendes Werk, in dem sie Malerei und Skulptur, Architektur und Design, Innen und Außen verbindet. Ihr Interesse gilt sowohl dem öffentlichen, urbanen als auch dem privaten Raum, die sie durch temporäre Interventionen, Aktionen und Installationen in lebensnahe, stille und zugleich pulsierende Orte verwandelt. Die von ihr bevorzugten Materialien sind Leinen, auf den Straßen oder bei Haushaltsauflösungen gefundene Textilien, alte Stickereien, Boxsäcke, die von der Künstlerin aufbereitet oder verfremdet und in überraschenden Konstellationen präsentiert werden – sowie Stoffe, die sie bei ihren Freunden aufstöbert oder geschenkt bekommt.
Mit Kissen ausgestopfte Matratzen
Aus diesen Fundstücken gestaltet sie außergewöhnliche Wohnlandschaften und Leseräume, in deren Mittelpunkt sich überlebensgroße, mit Kissen ausgestopfte Matratzen befinden. Auf der Vorderseite sind sie mit Bildern bedeckt, für die Constanza Siebdruckfarbe in Schwarz- und Grautönen benutzt. Sie muten wie ein Fries aus persönlichen und kollektiven Geschichten und Erinnerungen an und beziehen sich auf Personen, Symbole und Ereignisse, die Constanza persönlich bewegen. Auf der Rückseite schlängelt sich ein rotes Wellenmuster durch den Stoff.
Fest und weich zugleich
Unter der Decke befestigt, breiten sich die zugleich festen und weichen Matratzenskulpturen im Raum aus und heben damit die Grenzen zwischen den Wänden und dem Boden, zwischen den Besucherinnen und Besuchern, die sich darauf setzen oder legen können, zwischen Objekt und Subjekt auf. Das Wellenmuster, das sie auf einer Obstleiter entdeckte und das viele ihrer Arbeiten ziert, darunter die selbstgenähten Hotellatschen, die man anziehen muss, um sich auf den Matratzen bequem zu machen, ist inzwischen zu ihrem Markenzeichen geworden. Ihre weichkantigen Skulpturen wirken wie Elemente einer mobilen Behausung: Sie können schnell zusammengerollt, weggepackt und viel einfacher als Gemälde abtransportiert werden. Sie lassen an ein Schneckenhaus denken, das Constanza immer mit sich tragen, sich darin flüchten und geborgen fühlen kann.
Objekte in Räumen zum Verweilen & Träumen
Die Werkreihe »Alles muss raus« besteht aus Gardinen mit Ösen, die wie Gemälde präsentiert werden und am unteren Rand mit Meisenknödeln, Algen und Kartoffeln geschmückt sind. Constanza behandelt mit Respekt die oft übersehenen Dinge des Alltags und der Häuslichkeit, verwandelt sie in multifunktionale, sparsam gemusterte Objekte in Räumen, die zum Verweilen, Gesprächen und Träumen einladen. Dabei lässt sie sich häufig von industriellen Produkten wie zum Beispiel von den bereits erwähnten Obstleitern inspirieren, an die sie »Bücher ohne Worte« hängt. Es sind kleine Softbooks aus Stoffresten, mit Stickereien, Acrylbildern und Zeichen versehen, die wie ein geheimnisvolles Alphabet aussehen. Sie sind eine Art intimes Tagebuch und Archiv, wo sich Gefühle, Empfindungen, Ideen, zu realisierende oder nicht realisierte Projekte der Künstlerin spiegeln, die sie nur auf diese nonverbale Weise ausdrücken kann. Sie laden dazu ein, in Constanzas Welt einzutauchen. Auch wenn sie sich einer eindeutigen Interpretation entziehen, entfalten sie durch ihre Sinnlichkeit, Haptik und Schönheit einen starken Sog.
Kollektiv, individuell & manuell
Kollektiv und individuell: Das sind für Constanza Carvajal keine Gegensätze. Ihre sorgfältig gestaltete Kunst dient ihr auch dazu, die Erinnerung an das Textilhandwerk, an die manuelle Fertigung, an die Zerstörung dieses Handwerks durch die Industrialisierung und die Überschwemmung der heimischen Märkte mit importierten gebrauchten Textilien wachzuhalten. Darüber erzählen die mosaikartigen weißen Matratzenkissen, die sich zwischen Abstraktion und Figuration bewegen. Darauf ist oft eine Spinne zu sehen, das Symbol einer fleißigen Weberin und ein häufiges Motiv im Werk von Louise Bourgeois. Eine Anspielung auf die von Constanza bewunderte Künstlerin, die erst im hohen Alter von der Kunstwelt wahrgenommen wurde, ist die Darstellung einer Frau mit einem Haus auf dem Kopf. Bourgeois nannte diese Werkreihe »Femme Maison«. Doch in diesem Fall ist es ein Standbild von Constanza, die sich ihr Berliner Domizil übergestülpt hat.
Historien ohne Hierarchien
Nicht zu übersehen sind die gewöhnlichen Geräte, die in der textilen Handarbeit verwendet werden: Nähmaschinen, Scheren, Faden- und Nahttrenner, Nadeln, Stühle. Oft kann man Hände sehen, die in Scheren übergehen. Es gibt aber auch Szenen, die sich offensichtlich auf die grausame Pinochet-Diktatur beziehen, auf Familienfeste, Pflanzen, Stickereien, gemeinsame und private Rituale und Geschichten. Wichtiges und scheinbar Unwichtiges, Bewegendes und Alltägliches, Banales und Außergewöhnliches, Ernstes und Augenzwinkerndes: Constanzas bildgewordene Historien stehen nebeneinander, sind gleichwertig und kennen keine Hierarchien. Sie zeigen die Magie des flüchtigen Alltags und der nicht wahrgenommenen einfachen Sachen, die unser Leben leichter machen. Die Erinnerung daran wird mit der Zeit fragmentarisch, verblasst im Gedächtnis, leuchtet manchmal für ein Weilchen auf. Constanza Carvajal hält das Gewesene in ihrer Grenzen überschreitenden Kunst fest, um es vor dem Erlöschen zu bewahren.
Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff
constanza carvajal ǀ cantos blandos ǀ weiche kanten
30.08. – 29.09.2024
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Besichtigung der Ausstellung nach Vereinbarung
Kontakt: Lucyna Viale
Drontheimer Straße 22/23, 13359 Berlin
Constanza Carvajal
Die in Santiago de Chile geborene Künstlerin stammt aus einer Familie, die eine große Sammlung südamerikanischer Volkskunst, darunter handgemachte, bestickte Textilien zusammentrug. Sie wuchs in einem Ambiente auf, das wichtig für ihre zukünftige künstlerische Entwicklung war. Doch zuerst studierte sie Architektur und Design an der Päpstlich-Katholische Universität Valparaíso (PUCV), wo sie 2012 ihr Diplom erhielt. 2019 beendete sie als MA das Studium »Kunst im öffentlichen Raum und Neue Künstlerische Strategien« bei Professorin Danica Dákic an der Bauhaus Universität Weimar. Bis 2021 studierte sie in der Bildhauerklasse von Prof. Thomas Demand & Prof. Oliver Laric an HFBK Hamburg. Während ihrer Zeit in Chile arbeitete sie mit dem Kunstkollektiv MIL M2 zusammen, mit dem sie zahlreiche Aktionen im urbanen Raum Südamerikas und Europas durchführte. Seit 2021 beteiligt sie sich an der Initiative »Das sind wir«, die sich mit öffentlichen, urbanen Räumen aus feministischer Perspektive befasst.
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