Roger Melis und seine profunden Porträts der DDR
Roger Melis und seine profunden Porträts der DDR

Roger Melis und seine profunden Porträts der DDR

Mit 160 Schwarzweißfotografien aus drei Jahrzehnten DDR präsentieren die Reinbeckhallen in Oberschöneweide die bisher größte Retrospektive von Roger Melis (1940-2009).

Die in 21 Kapitel gegliederte Schau unter dem Titel Die Ostdeutschen zeigt sie in alltäglichen Situationen, an ihren Arbeitsplätzen, bei offiziellen Feierlichkeiten und privaten Festen, in der Stadt, auf dem Land, beim Rummel und im Urlaub an der Ostsee. Neben den Aufnahmen bekannter Persönlichkeiten, zu denen antifaschistische Remigranten, ferner Schriftsteller, Schauspieler und Dissidenten gehören, welche den in der DDR herrschenden Kommunisten ein Dorn im Augen waren, sodass sie freiwillig in die BRD emigrieren mussten oder dazu gezwungen wurden, sind in der von Mathias Bertram kuratierten Ausstellung etliche Einzel- und Gruppenporträts unauffälliger Menschen zu sehen, die gewöhnliche Berufe wie Taxifahrer, Kohlenträger, Kellner, Maler, Maurer, Feld- und Waldarbeiterinnen ausüben. Besonders anrührend sind die Bildnisse der Besitzer kleiner Läden, darunter der Berliner Holzbeizen-Händler (Berlin, 1979) und der Blumenhändler in der Schönhauser Allee (ca. 1980), die als Relikte der kapitalistischen Ökonomie in der DDR keine Entwicklungsmöglichkeiten und keine Zukunft hatten.

Roger Melis, Blick in die Ausstellung "Die Ostdeutschen". Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Roger Melis, Blick in die Ausstellung „Die Ostdeutschen“. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Ungeschönt und unverstellt

Roger Melis´ Interesse galt dem Einzelnen: Auch wenn er Massen auf den Straßen fotografierte, hatte er das Individuum stets im Blick. Er begegnete Menschen mit Respekt, unabhängig davon, ob sie zu den Geistesgrößen, Spießern oder zu den Malochern gehörten. Ihre profunden Porträts konnten entstehen, weil sie dem Fotografen vertrauten und sich nicht verstellten, als er ihre Aufnahmen machte. Auch bei seinen Streifzügen durch Stadt und Land hatte er das Gespür, im richtigen Augenblick auf den Auslöser zu drücken und hielt somit den ungeschönten Alltag seiner Landsleute fest: anonyme Plattenbausilos (Berlin-Marzahn), heruntergekommene Häuser, Hinterhöfe und üppige Verkäuferinnen in fast leeren Läden in Berlin, die Tristesse der Provinz, Frauen in den unverwechselbaren DDR-Kittelschürzen, grimmige Männer, die sich aus Langeweile oder (beruflicher?) Neugierde aus dem Fenster lehnen, um das Geschehen auf der Straße zu beobachten, ein stolzer Schlachter vor einem auf einer Leiter mit dem Kopf nach unten hängenden Schwein, ein Rentnerpaar, das auf Campingstühlen an einem gedeckten Tischchen neben drei Mülleimern sitzt, kleine Jungs, die große Transparente mit dem Konterfei des Genossen Ulbrichts tragen, salopp gekleidete Familien vor einem Riesenbanner, auf dem sie Genosse Lenin, wie immer mit proletarischer Mütze und mit bürgerlichem Schlips und Kragen, zu segnen scheint, und dann noch die wenigen Paradiesvögel, die in ihren Nischen hedonistische Partys feiern: Die Ausstellung fügt sich zu einem Panorama der DDR zusammen, eines Landes, das sich seiner Intelligenzija entledigt hat und deshalb von Mittelmäßigkeit geprägt war.

Mathias Bertram, Kurator der Ausstellung „Die Ostdeutschen“, hat im Nachlass seines Stiefvaters Roger Melis viele unbekannte Fotografien gefunden, die in den Reinbeckhallen zum ersten Mal öffentlich gezeigte werden. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Mathias Bertram, Kurator der Ausstellung „Die Ostdeutschen“, hat im Nachlass seines Stiefvaters Roger Melis viele unbekannte Fotografien gefunden, die in den Reinbeckhallen zum ersten Mal öffentlich gezeigte werden.
Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Alles im Blick

Die Reportagefotografien und Porträts von Roger Melis offenbaren die tiefe Kluft zwischen dem ideologischen Anspruch und der sozialen Wirklichkeit der DDR. Paraden und Parolen wirken lächerlich in einer Umgebung, die sich durch Enge, Verfall und Provinzialität auszeichnet. Nicht nur die Bauten bröckeln, sondern auch der Glaube daran, in einem sozialistischen Paradies zu leben. Das deuten die Haltung, die Mimik und die Gestik der Porträtierten an: Manche wirken resigniert oder sogar verzweifelt, andere blicken skeptisch, ironisch, trotzig oder aufmüpfig in die Kamera. Es fällt auf, dass mit der Zeit vor allem junge Menschen immer selbstbewusster werden; sie frönen privat, aber zunehmend auch öffentlich dem von der Obrigkeit verpönten westlichen Lebensstil. Die Ostdeutschen, wie ich sie jetzt mit den Augen des Berliner Fotografen Roger Melis sehe, muten gar nicht so uniform und angepasst an, wie ein hie und da noch immer geäußertes Stereotyp lautet. So oder so: nach der Besichtigung seiner Ausstellung fühle ich mich glücklich, in diesem sozialistischen Bruderland der Volksrepublik Polen nicht gelebt haben zu müssen.

Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff

Roger Melis: Die Ostdeutschen
Fotografien aus drei Jahrzehnten
bis 28. Juli 2019
Stiftung Reinbeckhallen >>>
Reinbeckstraße 17, 12459 Berlin
Do & Fr 16-20 Uhr, Sa & So 11-20 Uhr
Eintritt: 5 € / ermäßigt 3 €, freitags Eintritt frei

Zur Ausstellung erschienen der Begleitband Roger Melis: Die Ostdeutschen mit Reportagen und Porträts aus dem Nachlass sowie eine Neuausgabe des Fotobandes Roger Melis: In einem stillen Land.

Während der Ausstellung sind beide Titel zusammen im Schuber zum Sonderpreis von 48 Euro erhältlich, einzeln je 28 Euro.
www.lehmstedt.de

Lesen Sie auch die Ausstellungsbesprechung von Urszula Usakowska-Wolff auf artinberlin >>>