»Written on Skin« – 3 Angels for Agnès
»Written on Skin« – 3 Angels for Agnès

»Written on Skin« – 3 Angels for Agnès

Diese Oper ist ein Kammerspiel in mehrfacher Hinsicht. Das Bühnenbild setzt sich aus fünf kammerartigen Räumen zusammen, die wie ein überlebensgroßes und offenes Puppenhaus anmuten. Sein Herzstück ist ein längliches und schummriges Interieur, das als gute Stube, Arbeits-, Ess-, Schlafzimmer und auch als Tatort genutzt wird. In Sepia und Graublau gehalten wirkt es, als stamme es aus einer fernen Vergangenheit. Da aus seiner rechten Nische zwei kahle Bäume ins Obergeschoss wachsen, wird die Decke mit Kupferstäben gestützt. Darüber befindet sich eine Fassade mit einem Fenster, das meistens in Dunkelheit versinkt. Im Gegensatz dazu sind die beiden recht kleinen Räume – unten und oben links – in kaltes Neonlicht getaucht. Sie strahlen die kühle Ästhetik der modernen Büros mit Stahlmöbeln, darunter Regale, Tische, Tischlampen und Hocker aus. Sowohl das im Heute verwurzelte nüchterne und erschreckend zweckmäßige Ambiente als auch der mit der Patina der Zeit bedeckte Multifunktionstraum lassen nichts Gutes ahnen. Und in der Tat ist die in diesen kargen minimalistischen Kulissen angesiedelte Handlung haarsträubend und im wahrsten Sinne des Wortes herzzerreißend. Minimal ist auch die fünfköpfige Besetzung, wobei drei Dramatis Personae in Doppelrollen fungieren. Nicht besonders üppig bestückt ist ebenfalls das Orchester: 60 Instrumente, darunter eine Glasharmonika und eine Viola da Gamba, erzeugen berauschende Klänge, deren Sog man sich nicht entziehen kann.

George Benjamin: WRITTEN ON SKIN (Official teaser), Deutsche Oper Berlin

Gut bestückte Tragödie mit gruseligem Ende

Die moderne Kammeroper unter dem Titel »Written on Skin« des britischen Komponisten George Benjamin und seines Librettisten Martin Crimp feierte nun auch in Berlin die langersehnte Premiere, nachdem ihr Aufsehen erregendes Werk bereits am 7. Juli 2012 auf dem Festival d’Aix-en-Provence uraufgeführt und im Nachhinein an großen und kleineren Musiktheaterbühnen, zum Beispiel in Detmold, unter viel Beifall aufgeführt wurde. Das beeindruckende Spektakel dauert 90 Minuten, besteht aus drei Teilen mit insgesamt 15 Szenen und läuft wie ein Spielfilm ohne Pause ab. Für die Inszenierung an der Deutschen Oper Berlin zeichnete, wie bereits bei der Uraufführung vor knapp zwölf Jahren, die britische Regisseurin Katie Mitchell verantwortlich, wobei die »szenische Einstudierung« der neuesten Auflage der unter die Haut gehenden und auf den Magen schlagenden Ehetragödie mit einem gruseligen Ende Dan Ayling zu verdanken ist. Die Kostüme, je nach Handlungsraum mal leger, mal büromäßig, mal dem Mittelalter nachempfunden, entwarf Vicki Mortimer. Alle, die an der Ausstattung, Gestaltung und dem Erfolg der Aufführung in Berlin beteiligt sind, tragen dazu bei, dass die Übergänge zwischen den Zeiten und Räumen, zwischen der himmlischen, irdischen und höllischen Sphäre gut nachvollzogen werden können. Große Anerkennung gebührt auch dem Lighting Designer Jon Clark und dem Einrichter Peter Harrison: Ihr Umgang mit Licht und Schatten, mit Helligkeit und Dunkelheit steuert dazu bei, dass die Suspense, wie in einem Hitchcock-Film, körperlich spürbar ist.

George Benjamin: WRITTEN ON SKIN (Official Berlin Trailer), Deutsche Oper Berlin

Auf die Haut geschrieben: Konsequenzen außerehelicher Liebe

»Written on Skin« heißt: Auf die Haut geschrieben. Der Titel bezieht sich auf das Pergament, eine nicht gegerbte, nur leicht bearbeitete und fast transparente Tierhaut (von Schafen, Ziegen und Kälbern), worauf seit der Antike bis ins 13. Jahrhundert geschrieben und gemalt wurde. Das Buch war in dieser fernen Vergangenheit ein kostbares Gut, gestaltet von anonymen Künstlern, vor allem von Mönchen, die des Schreibens mächtig waren und darüber hinaus ihre Geschichten beeindruckend bebilderten. Der Oper von Georg Benjamin mit dem Text von Martin Crimp liegt die Legende »Guillem de Cabestanh – Le cœur mangé« zugrunde. Der tatsächlich um 1212 verstorbene Titelheld, ein okzitanischen Troubadour, soll eine Liebesaffäre mit Sorimonde, Gattin seines Mäzens und Auftraggebers Raimon de Castel Roussillon in Südfrankreich, eingegangen sein. Nach der Identität der Dame gefragt, antwortete Guillem, dass es sich dabei um Sorimondes Schwester Agnès handelt. Das gefiel Sorimonde überhaupt nicht und sie zwang den Troubadour, ein Poem zu schreiben, in dem er den wahren Namen seiner Auserwählten nennt. Nachdem es Raimon in die Hände fiel, erstach er den Nebenbuhler, enthauptete ihn und riss ihm das Herz heraus. Sein Leibkoch bereitete daraus ein köstliches süßsaures Gericht für die Ehebrecherin zu. Als sie es verspeist hatte, erfuhr sie, wer der eigentliche Lieferant dieser Innerei-Leckerei war. Des Geliebten Kopf landete aber nicht im Topf, sondern in ihres Gatten Hand, der damit grinsend vor ihr stand. Von einem Schauder ergriffen, stürzte sie sich in die Tiefe und starb. Das ist das Ende einer Legende über dramatische amouröse und kulinarische Manieren: wie geschaffen, um sie in einer Oper zu servieren.

George Benjamin: WRITTEN ON SKIN, Deutsche Oper Berlin, Aus der Premiere

Wife, Boy, Sex & Crime

Sex & Crime, Macht und Machtmissbrauch, die befreiende Kraft der Kunst und ihr Scheitern in der Konfrontation mit dem Leben, Subordination und Rebellion, Faszination und Ekel: Das ist der Stoff, aus dem »Written on Skin« gewebt ist. Der Librettist Martin Crimp verpasst der Handlung, die im Mittelalter spielt, einen festen Rahmen, wobei die Übergänge zwischen der Vergangenheit und Gegenwart fließend sind. Will heißen: Die Zeiten haben sich geändert und mit ihnen auch die Lebensqualität, doch die Bedürfnisse der Menschen, ihre Sehnsucht nach Liebe, Zuneigung, Akzeptanz, freier Entfaltung und auch nach Dominanz sind unverändert geblieben. Wie in einer griechischen Tragödie steuert die Oper von Anfang an auf eine Katastrophe zu, doch eine Katharsis findet nicht statt. Das Geschehen erläutern drei Engel (ohne Flügel), die zugleich als zeitgenössische Kommentatoren und mittelalterliche Protagonisten (Boy, Marie und John) fungieren. Sie führen Monologe und Dialoge, reden oft aneinander vorbei, scheinen in eigenen Blasen gefangen zu sein. Das Wesentliche spielt sich im Haus des Protectors ab. Der Schutzherr ist ein brutaler Gebieter über Felder, Körper und Seelen, der seine schöne, viel jüngere und am Anfang namenlose Frau als sein Eigentum betrachtet und dementsprechend auch behandelt. Der Erste Engel, Boy, schlüpft in die Rolle eines Künstlers, der das Leben und die Wohltaten des Protectors illustrieren soll. Da er die namenlose Gattin des Schutzherrn auf ihren Wunsch und – wie zu sehen – wahrheitsgemäß als eine junge und attraktive Frau auf Pergament bannt, fühlt sich (die Analphabetin) beim Anblick ihres Akts als Individuum anerkannt und beharrt darauf, sie von nun an Agnès zu nennen. Damit nicht genug: Sie lässt sich im Nu auf eine Amour Fou mit dem Bub ein. Auch der Protector unterliegt Boys Charme und küsst ihn leidenschaftlich auf den Mund. Doch er kann es nicht dulden, sein Besitztum, zu dem auch seine Angetraute zählt, mit dem Ghostpainter zu teilen. Das schlimme Ende ist unausweichlich, künstliches Blut fließt reichlich.

George Benjamin: WRITTEN ON SKIN (Teaser 2), Deutsche Oper Berlin

Begnadete Mimen mit bezaubernden Stimmen

Die Premiere von »Written on Skin« an der Deutschen Oper Berlin am 27. Januar 2024 fand im vollbesetzten Haus statt und riss das Publikum vom Stuhl. Die Beifallsstürme wollten nicht aufhören. Das ist kein Wunder, denn der Abend mit dem Werk von George Benjamin und Martin Crimp und der beindruckenden musikalischen, gesanglichen und schauspielerischen Performance der kleinen, aber großartigen Besetzung wird lange in Erinnerung bleiben. Unvergesslich die engelhafte Stimme des Countertenors Aryeh Nussbaum Cohen, der in der Doppelrolle als First Angel und leidenschaftlicher Liebhaber Boy gleichermaßen begeistert. Zusammen mit Georgia Jarman, ihrem sinnlichen, warmen Sopran, der sich stellenweise zu ungeahnten Höhen aufschwingt, ohne schrill zu klingen, und dem exzellenten mimischen Talent, geben sie das ideale Paar ab, das sich leider zur falschen Zeit am falschen Ort begegnet. Mit seiner starker Bühnenpräsenz und dem kraftvollen Bariton verkörpert Marc Stone den Machtmenschen und Despoten Protector, wie es im Buche steht. Nicht zu vergessen die Mezzosopranistin Anna Werle (Zweiter Engel und Marie, die Schwester von Agnès) und Chance Jonas O’Toole (Dritter Engel und Maries Gatte), die sowohl gesanglich als auch darstellerisch keine Wünsche offen lassen. Alle guten Dinge sind bekanntlich drei, aber, wie in diesem Dreiakter zu sehen und zu hören ist, wollen oder können sie für Agnès keine Schutzengel sein.

Das Orchester unter der Leitung von Mark Albrecht kann nicht hoch genug gelobt werden. Es trifft genau den richtigen Ton, spielt weder zu laut noch zu leise, steht den Sängerinnen und Sängern nicht im Wege, übertönt sie nicht, steigert die Dramatik auf eine fast schon beiläufige Weise. In der Berliner Aufführung von »Written on Skin« passt einfach alles zusammen, klingt beglückend und entzückend. Es ist ein fulminantes Gesamtkunstwerk, das den Glauben an die unvergängliche Magie der Oper stärkt. George Benjamin und Martin Crimp, die bei der Premiere zugegen waren, und all den beim Namen Genannten und Ungenannten sei Dank!

Text & Foto © Urszula Usakowska-Wolff