Christian Boltanski (6. September 1944 – 14. Juli 2021) in memoriam
Christian Boltanski (6. September 1944 – 14. Juli 2021) in memoriam

Christian Boltanski (6. September 1944 – 14. Juli 2021) in memoriam

Unvergesslich bleibt die Ausstellung Bewegt, mit der Christian Boltanski 2013 das Kunstmuseum Wolfsburg in ein Archiv verwandelte, wo er die Vergänglichkeit der Erinnerung und die Erinnerung an die Vergänglichkeit offenbarte. Es war eine fünfteilige Expedition ins Reich der Toten. Sie begann im Japangarten, wo die vom Winde nicht verwehten „Stimmen der verirrten Seelen“ die an Metallstäben befestigten Glöckchen zum Schwingen und Klingen brachten, führte dann über ein dunkles Kabinett, in dem Bilder des sich Zwischen den Zeiten wandelnden Gesichts des Künstlers projiziert und von seinem Herzschlag begleitet wurden, wonach wir eine große lichtdurchflutete Halle betraten. Sie war das Herzstück der Ausstellung, die in der Tat beweglich und bewegend, geradezu überwältigend war. Wir wähnten uns plötzlich inmitten von Geistern, die über uns und neben uns schwebten, kreisten oder hauchdünn an uns vorbeizogen: Gesichter und Gestalten von Frauen, Männern und Kindern, lächelnd, glücklich, nachdenklich, mit Hunden, auf Fahrrädern, Schaukelpferden, allein, zu zweit, selten in größerer Gesellschaft, eine Parade von Schemen, schwarzweiß, blass, flüchtig, doch noch recht gut erkennbar, präsent und sich langsam in der Masse auflösend, fast körperlich spürbar und zugleich abwesend wie Unbekannte aus alten Familienalben, sehr vertraut, denn solche Fotos hat und kennt ja jede(r).

Christian Boltanski, Geist(er), Installationsansicht, Kunstmuseum Wolfsburg, 2013. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Christian Boltanski, Geist(er), Installationsansicht, Kunstmuseum Wolfsburg, 2013. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Vergänglichkeit und Vanitas

Doch die Installation Geist(er) mit 190 auf durchsichtige Stoffbahnen gedruckten Einzel- und Gruppenporträts sah wie die Seiten eines etwas gespenstischen Facebook im realen Raum aus, wie das Buch der nur noch auf Fotos existierenden Gesichter, die sich manchmal überlagerten und miteinander zu verschmelzen schienen, für eine Weile aufleuchteten, um dann schnell wieder zu verblassen und zu erlöschen.

Was mich als Künstler interessiert, ist Vergänglichkeit und Vanitas. Ich möchte das Bewusstsein für die Endlichkeit, für die Nichtigkeit wecken. Die Kunst muss die Wahrheit suchen und Fragen stellen, ohne darauf Antworten zu geben. Wir leben in einer posthumanistischen Zeit, die von Ökonomismus und Egoismus geprägt ist. Altern und Tod werden verdrängt. Ich möchte zeigen, dass wir alle sterben müssen, obwohl wir als Einzelpersonen einzigartig und einmalig sind. Der Tod ist etwas Gewöhnliches und Banales, doch der Mensch stirbt zwei Tode: den physischen Tod, und dann stirbt die Erinnerung an ihn. Ein Trost, dass der Geist unserer Vorfahren in uns lebt, denn jeder trägt seine Toten in sich: die Augen sind zum Beispiel vom Uropa, der Mund von der Großtante und so weiter,


sagte am 2. März 2013 beim Presserundgang im Kunstmuseum Wolfsburg Christian Boltanski.
Christian Boltanski am 2. März 2013 im  Kunstmuseum Wolfsburg. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Christian Boltanski am 2. März 2013 im Kunstmuseum Wolfsburg. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Todernst mit Humor

Christian Boltanski nannte sich „Wanderprediger“ der Sterblichkeit, und obwohl es ihm um todernste Themen ging, machte er nicht den Eindruck, ein Kind von Traurigkeit zu sein. Er hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Buddha und Alfred Hitchcock und einen ausgeprägten Sinn für Humor: „Ich ziehe durch die Welt und sage immer dasselbe, aber jedes Mal mit anderen Worten. Ich benutze eine moderne Sprache, um Bekanntes zu vermitteln. Und ich liebe das Leben, das Essen und das Trinken.“ Wäre er kein Künstler, könnte er das Leben nicht ertragen. Seine Beschäftigung mit dem Tod im Allgemeinen führte dazu, dass er sich mit zunehmendem Alter auch mit dem eigenen Tod versöhnt hat und deshalb keinen Augenblick unbemerkt verstreichen lassen wollte. Davon zeugte das am Ende von Bewegt an einer weißen Stellwand montierte Zählwerk Dernière seconde (Die letzte Sekunde), eine digitale Uhr, deren rote Ziffern erst dann zum Stillstand kommen werden, wenn ihr Schöpfer das Zeitliche für immer segnet: „Man stirbt ja jeden Tag, das Leben geht sehr schnell zu Ende. Schon als Baby sieht man wie ein alter Mann aus.“ Weil der Künstler das alles wusste, wartete er auf den Tod „mit Leichtigkeit und Gelassenheit, denn auch Schweizer sterben, obwohl es ihnen so gut geht und sie so gesund leben, dass sie eigentlich nicht sterben dürften.“

Christian Boltanski, Letzte Sekunde,  Kunstmuseum Wolfsburg, 2. März 2013. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Christian Boltanski, Letzte Sekunde, Kunstmuseum Wolfsburg, 2. März 2013. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Minimalist als Tutti-Artist

Um ein möglichst großes Publikum zu erreichen, zu bewegen und zu beeindrucken, muss die Kunst „einen hohen Wiedererkennungswert haben, suggestiv sein und Emotionen wecken.“ Sie muss also mit minimalen Mitteln eine maximale Wirkung erzielen. Christian Boltanski fühlte sich dem Minimalismus und Konzeptualismus zugehörig, weil er seine künstlerische Karriere begann, als sich diese beiden Richtungen herausbildeten und etablierten, wozu auch er einen wichtigen Beitrag leistete. Der am 6. September 1944 in Paris geborene Autodidakt stammt aus einer jüdisch-katholischen Familie, auf der das Trauma des Krieges lastete. Während der deutschen Besatzung musste sein jüdischer, aus Odessa stammender Vater im Versteck leben, um nicht in ein Konzentrationslager verschleppt zu werden. Als Heranwachsender erfuhr Christian, dass die meisten seiner Verwandten väterlicherseits von den Deutschen in Vernichtungslagern und Ghettos ermordet wurden. So begann er Mitte der 1960er Jahre, sich mit der Vergangenheit und der Erinnerung zu beschäftigen, indem er auch ihre kleinsten und unbedeutendsten Zeugnisse wie Zuckerstücke und Spielsachen, darunter auch Waffen, sammelte und diese gewöhnlichen Exponate in Vitrinen ausstellte oder in Keksdosen verstaute. 1971 lernte er den legendären Ausstellungsmacher Harald Szeemann kennen, der ihn einen „Tutti-Artisten“ (Totalkünstler) nannte und ihn 1972 nach Kassel zur documenta 5 eingeladen hatte, die als Schau der „individuellen Mythologie“ in die Kunstgeschichte einging. „Ich verdanke Harald sehr viel. Er war wie ein Vater für mich“, sagte Boltanski über seinen 2005 verstorbenen Freund, der übrigens ein Schweizer war.

Christina Boltanski am 2. März 2013 im Kunstmuseum Wolfsburg. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Christina Boltanski am 2. März 2013 im Kunstmuseum Wolfsburg. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Seriös und subversiv

Mindestens zwei Seelen wohnten in Boltanskis Brust: die des Archivars und die des Regisseurs eines  monumentalen Schattentheaters, in dem die Vergänglichkeit menschliche Züge hat. Für sein Archiv sammelt er Requisiten, die in seinen Inszenierungen die Hauptrolle spielten: Sachen, die von ihm aufgespürt und erworben wurden, weil in ihnen noch die Erinnerung an Personen schlummerte, denen sie gehörten, darunter Fotos, Kleider und Fundstücke, banale Dinge, die einfach länger leben als Menschen. Ganz im Sinne der alten Vanitas-Darstellungen zeigen sie die Absenz in der Präsenz, verkörpert durch Objekte, die früher Eigentum der Subjekte waren. Doch Vorsicht ist geboten, denn Boltanskis raumgreifende und ergreifende Inszenierungen der Vergangenheit und Vergänglichkeit sind ambivalent: seriös und subversiv. Eine seiner wichtigsten Arbeiten, die aus 1200 Fotos bestehende Installation Menschlich aus dem Jahr 1994, die sich in der Wolfsburger Sammlung befindet und den „sentimentalen Minimalisten“ zu den 190 Geis(ter)-Abzügen anregte, wirkt wie ein Mausoleum im Museum. Es ist ein Raum im Raum, spärlich beleuchtet und von oben bis unten mit Einzel- und Gruppenporträts von Verstorbenen behängt. Darunter sind auch Bilder von deutschen Soldaten, SS-Leuten und ihren Opfern, zum Teil Fotoalben entnommen, die der Künstler auf Flohmärkten in Berlin fand:

Ich weiß nicht mehr, wer Täter und wer Opfer ist. Es ist nun mal so, dass ein Mann sein Kind lieben und zugleich ein fremdes Kind töten kann. Jeder hat das Zeug dazu, sich von Zeit zu Zeit in einen Teufel zu verwandeln. Doch auch der Teufel macht manchmal eine Pause.

Was die Fotografierten verbindet, ist, dass darauf Menschen abgebildet sind, deshalb heißt die Installation „Menschlich“. Und auch das war typisch Boltanski: Es gab keinen aufwändigen und teuren Hochglanzkatalog von „Bewegt“, sondern eine auf Zeitungspapier gedruckte achtseitige Museumsbeilage.

Christian Boltanski, Menschlich (Detail), 1994, Kunstmuseum Wolfsburg. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Christian Boltanski, Menschlich (Detail), 1994, Kunstmuseum Wolfsburg. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Teuflischer Pakt

Der für unsere Zeit so erdrückenden Bilderflut wegen konnte Christian Boltanski mit Fotos „immer weniger anfangen.“ Seit 2005 arbeitete er an einem neuen Projekt: Herzschlag für die Ewigkeit, für den er in einem mobilen, 2013 auch im Kunstmuseum aufgestellten Aufnahmestudio, über 60.000 Herzschläge von Menschen weltweit registriert hatte. „Darunter befindet sich auch der Herzschlag eines schwedischen Hundes“, erklärte Boltanski. „Für mich ist es beruhigend zu wissen, dass mein Herz Teil eines lebendigen ‚Kunstschlags’ ist und mich überleben wird.“ Viel Platz für ein Archiv der Herzen gibt es auch, und zwar auf der unbewohnten japanischen Insel Teshima, die ihm der Millionär und Kunstsammler David Walsh schenkte. Christian Boltanski war nicht nur ein Ausnahmekünstler, sondern ein Mensch mit großer Fantasie und Überzeugungskraft, die ihm halfen, auch die unwahrscheinlichsten Ideen zu verwirklichen und keine Angst vor neuen Wagnissen zu haben. Im Februar 2010 unterschieb er notariell einen Pakt, wie man ihn nur aus der Literatur kennt. Der Franzose verkaufte dem 1961 geborenen australischen Glückspieler und Zocker Walsh, „der noch nie eine Wette verloren hat“, gegen eine monatliche gezahlte Leibrente den Rest seines Arbeitslebens. Drei in Boltanskis Studio im Pariser Vorort Malakoff installierte Kameras übertrugen wie im Big Brother rund um die Uhr sein künstlerisches Tun in eine Höhle in Tasmanien. Das Auffälligste an dieser Livesendung war: Der Künstler glänzte die meiste Zeit durch Abwesenheit. Sein Werk erfreute sich einer ungebremsten Beliebtheit, deshalb reiste er damit durch die Welt.

Christian Boltanski starb am 14. Juli 2021 in seiner Heimatstadt Paris. Die Dernière seconde, welche seit 2012 die Sekunden seines Lebens zählte, ist heute stehengeblieben. Ein Trost, dass eine Auswahl von Christian Boltanskis Arbeiten unter dem prophetischen Titel Danach noch bis zum Ende des Monats in der Berliner Galerie Kewenig gezeigt wird: darunter Coeur mit dem Herzschlag des Künstlers, eine Installation, von der er sagte, sie sei sein „letztes Selbstporträt.“

Text und Fotos © Urszula Usakowska-Wolff