Unter dem Titel »Bei Mutti« präsentiert die Berlinische Galerie 80 Arbeiten von Erwin Wurm, die er in den letzten 25 Jahren geschaffen hat: aus der Form geratene Alltagsobjekte, One Minute Sculptures und Zeichnungen. Die erste Einzelausstellung des international gefeierten Allround-Künstlers in Berlin zeigt, wie er in seinen Werken die Grenzen zwischen Skulptur, Objekt und Performance überwindet. »Bei Mutti« sind alle herzlich willkommen, und die Mutigen können sich für einen kurzen Augenblick in eine leibhaftige Plastik verwandeln. Erwin Wurm macht´s möglich!
Von Urszula Usakowska-Wolff
Besichtigung mit eingezogenem Bauch
Ein Haus unter dem Dach eines anderen Hauses. Aber was für ein Haus! Scheinbar ein ganz gewöhnliches Einfamilienhaus, aber irgendwie anders. Das liegt offensichtlich an seinen Proportionen: Während seine Höhe mit der eines »echten« Hauses übereinstimmen mag, sind seine Breite – 1,10 m und seine Länge – 20 m echt ungewöhnlich, was all jene hautnah zu spüren bekommen, die sich auf die Besichtigung seines Innern einlassen. Sie müssen den Bauch einziehen, die Arme an den Körper drücken, um sich seitlich durch den schmalen Gang vorzutasten: nichts für Leute, die an Adipositas oder Klaustrophobie leiden. Dieses ungewöhnlich enge Domizil, das folgerichtig »Narrow House« heißt und am Anfang der Ausstellung »Bei Mutti« in der Berlinischen Galerie steht, ist das Werk von Erwin Wurm: Der österreichische Künstler hat das Haus seiner Eltern in Oberschöckl bei Graz nachbauen lassen, ein gewöhnliches Einfamilienhaus mit Satteldach und einer Inneneinrichtung, wie sie in den 1960er und 1970er Jahren nicht nur in den ländlichen Gebieten in Österreich gang und gäbe war: Laminat auf dem Boden, Raufasertapeten und Familienfotos an den Wänden, gemusterte Vorhänge und Polyestergardinen in den Fenstern, Mobiliar aus Eichenholz oder auf Eiche gemacht. Alles sehr ordentlich, zweckmäßig und bieder, wären da nicht die schon fast psychodelisch anmutenden orangenen Tapeten im Bad und im Klo sowie das giftgrüne Scheibentelefon im Flur: ein bisschen Wahnsinn in den verborgenen Zonen des kleinbürgerlichen Wohlstands und Anstands. »Ich habe mein Elternhaus aus dem Gedächtnis nachgebaut, weil diese Räume so nicht mehr existieren. Es hat für mich etwas Heimeliges, Berührendes«, sagt Erwin Wurm.
Leichtzugängliche Tragikomik des Seins
1987 war der heutige Star der internationalen Kunstszene Stipendiat des Berliner DAAD-Künstlerprogramms. Das war einer der Gründe, ihm fast 20 Jahre danach eine Einzelausstellung in der Berlinischen Galerie auszurichten. Höchste Zeit, denn bisher musste ein in der Bundeshauptstadt ansässiger Wurm-Fan nach Wolfsburg, Bonn, Wuppertal, Duisburg oder Wien reisen, um mit seiner Kunst in Berührung zu kommen. Denn seine Kunst ist eine, die in vielen Fällen erst durch das Mitmachen des Publikums zur Kunst wird. Der am 27. Juli 1954 in Bruck an der Mur als Sohn eines Polizisten und einer Hausfrau geborene Erwin Wurm hat einen Sinn für das Skurrile, für das Abgründige, für die Tragikomik des Seins. Er stellt tradierte Vorstellungen auf den Kopf, er zeigt die Unvollkommenheit und die Unzulänglichkeit der Menschheit sowie der Dinge, mit denen sie sich umgibt. Das Scheitern und das Versagen sind seine Themen, auch wenn das auf den ersten Blick nicht so offensichtlich scheint, denn seine Kunst ist leicht zugänglich. Der Bildhauer, Aktionskünstler, Filmer, Fotograf und Autor erfreut sich seit über zwei Jahrzehnten einer großen Popularität, die er zuerst mit seiner bis heute fortgesetzten Werkgruppe der »One Minute Sculptures« erreichte. So bringt er die Menschen dazu, unter seiner schriftlichen Anleitung unbequeme oder lächerliche Posen anzunehmen, um sich für eine Minute, die auf einem Foto festgehalten wird, wie ein Kunstwerk zu fühlen. Joseph Beuys meinte: »Jeder Mensch ist ein Künstler«. Erwin Wurm zeigt, dass jeder Mensch ein Kunstwerk, eine leibhaftige Plastik sein kann. Er ist eine Art Pygmalion à rebours, der, im Gegensatz zum mythologischen Künstler, die Besuchenden unabhängig vom Geschlecht und Alter in lustige oder lächerliche Statuen verwandelt.
Auf dem Gebetsteppich an Spinoza denken
Nach der Enge im »Narrow House« gibt es viel Platz in der Treppenhalle der Berlinischen Galerie. Auf weißen Podesten stehen oder liegen dort gewöhnliche Dinge – und der Geist von Marcel Duchamp ist allgegenwärtig. Es gibt zwar keine »Fontäne«, auch keinen »Flaschentrockner«, dafür einzelne Stühle mit oder ohne Löcher, eine Ledercouch mit einem großen Loch, eine Tasche, eine Hundehütte, eine WC-Ente, einen Gebetsteppich, einen Stapel Bücher, mehrere Tennisbälle, einen großen Pullover mit norwegischem Muster und eine giftgrüne Campingliege, die an der Wand hängt. Neben oder auf den Gegenständen hat der Künstler Gebrauchsweisungen für all jene geschrieben und gezeichnet, die eine »One Minute Sculpture« werden wollen: »Auf Tennisbällen liegen, kein Körperteil berührt den Boden, eine Minute liegen bleiben … an nichts denken.« Dagegen soll man auf dem Gebetsteppich: »Tief einatmen, Luft halten und an Spinozas Freien Willen denken.« Wenn man bereit ist, den Kopf auf das Podest zu legen, um die WC-Ente auf dem Kopf zu balancieren, sollte Folgendes befolgt werden: »Denken Sie an Ihre Verdauung.« Die Bücher der Philosophen, darunter Platon, Schiller, Kant, Machiavelli und … Adolph Freiherr von Knigge soll man vom Stapel nehmen und sich zwischen die Beine klemmen. Kein Wunder, dass sich (nicht nur) im Land der Dichter und Denker Erwin Wurms »One Minute Sculptures« einer reißenden Popularität erfreuen: Wo sonst gibt es im Museum eine Kunst, die man mit dem eigenen Körper vervollständigen, an der man Spaß haben kann und das alles auch noch fotografieren und in den sozialen Medien ohne Angst vor Verletzung des Copyrights verbreiten darf? Kunst als Symbiose zwischen Ready-Mades und Sozialer Skulptur: zwar von kurzer Dauer in der Realität, aber mit einem langen Leben in der Virtualität.
Ein Pullover für zwei
Bei den »One Minute Sculptures« geht es, wie Thomas Köhler, Direktor der Berlinischen Galerie und Kurator »Bei Mutti« sagt, »um eine Körpererfahrung, das heißt, was passiert, wenn wir nicht nur zuschauen, sondern aufgefordert werden, auch wenn nur für eine Minute, selbst zur Skulptur zu werden. Es gibt zwar eine Gebrauchsanweisung, aber jeder kann frei darüber entscheiden, auf die Bühne zu gehen, allein, oder zu zweit einen Pullover anzuziehen, sich auf ein Podest zu legen und den Kopf in eine Hundehütte zu stecken, die >Beichtstuhl< heißt. Oftmals kann man das allein schlichtweg nicht meistern, oftmals schafft man das nur zu zweit. Man erlebt sich, man erlebt den Raum und den Begriff Skulptur komplett neu.« Wie die Gebrauchsanweisungen für die »One Minute Sculptures« entstehen, ist in einem an die Treppenhalle anschließenden Saal zu sehen: Dort hängen etliche Zeichnungen, auf denen Erwin Wurm die Körperhaltungen skizziert und schriftlich instruiert, was die Menschen tun müssen, um eine lebende Skulptur zu werden: Sie müssen ganz einfach seinen absurden und zugleich autoritären Anweisungen Folge leisten. Diese täglich produzierten Zeichnungen entstehen darauf, was gerade zur Verfügung steht, und weil Erwin Wurm ein gefragter Künstler ist und viel reist, gibt es darunter nicht wenige, die er auf Hotelpapier bannt: »Je mehr man arbeitet, desto mehr Ideen hat man. Ich mache mir eine Skizze, damit ich weiß, wie eine Sache auszuschauen hat«, sagt er. »Ich habe tausende Zeichnungen: andere schreiben, ich mache eine Zeichnung. Auch Leute aus meiner Umgebung sind darauf, denn sie sind für mich am leichtesten verfügbar. Diese Zeichnungen sind nicht nur Handlungsanweisungen, sondern auch Skizzen für Skulpturen, Ideenskizzen, die zeigen, was ich festhalten möchte.«
Soziale Themen unserer Zeit
Dass Erwin Wurm Humor hat, ist spätestens daran erkennbar, dass er einen ganz besonderen Ratgeber veröffentlichte, ein Gegenstück zu den Büchern, die dabei helfen sollen, das Gewicht in kurzer Zeit zu reduzieren. »Konfektionsgröße 50 zu 54 in acht Tagen« heißt die Broschüre, 1993 vom Hamburger Kunstverein publiziert, in der er sachlich beschreibt, was die Dicken essen, trinken und tun müssen, um noch dicker zu werden: viel Fett, Zucker, Wein, Bier, Cola, Null Bewegung. Die Seiten der »Konfektionsgröße« liegen in den Vitrinen in dem Raum mit den Instruktionszeichnungen, und wenn man seine Anleitungen befolgt, in die Breite zu gehen, wird man am Ende des Prozesses dem Wesen gleichen, das auf dem Buchcover abgebildet ist: einer aufgeblähten Kugel, die mehr an einen Ballon als an einen menschlichen Körper erinnert. »Jede künstlerische Arbeit spricht die Sprache der jeweiligen Zeit, und es ist sehr schwierig, diese Sprache dingfest zu machen«, so Erwin Wurm. »Themen unserer Zeit sind soziale Themen. »Wir haben >Konfektionsgröße 50 zu 54< in diese Ausstellung aufgenommen, weil es schon ein Paradebeispiel ist: man fügt Volumen hinzu und man nimmt Volumen weg. Wenn wir zunehmen und abnehmen, machen wir eigentlich das Gleiche, also wenn man beides verquickt, kommt man auf eine andere, auf eine soziale Ebene. Menschen, die zum Beispiel in Amerika sehr dickleibig sind, sind Menschen aus der Unterschicht.« Zu welcher Schicht auch immer die Menschen sonst wo gehören, für den Künstler sind sie tragikomische Figuren: »Egal, ob wir mithilfe eines Ernährungsplans oder einer bestimmten philosophischen Haltung das Leben zu meistern versuchen, letzten Endes scheitern wird alle. Das ist ein wesentlicher Teil von uns.«
Ein Kühlschrank namens Butter
Erwin Wurm ist ein Meister der Verformung, Transformation und Ironie, der sich mit der Mediokrität, Theatralik und dem Pathos des Alltagslebens und der Kultur auseinandersetzt. Im letzten Raum der Ausstellung in der Berlinischen Galerie werden seine neueren Arbeiten gezeigt: Skulpturen von Möbeln, Uhren, Einrichtungs- und Gebrauchsgegenständen, die zerbeult, beschädigt und abgenutzt sind, doch in ihrer Versehrtheit sehr ästhetisch und auch sehr menschlich wirken. »In meinen Arbeiten hat mich immer die Deformation beschäftigt, also wenn jemand oder etwas aus der Form gerät. Mitte der 1980er habe ich mich entschlossen, mit Materialien zu arbeiten, die leicht verfügbar und auch billig sind. Ich wollte schon immer von der Kunst hauptberuflich leben, also begann ich, Wegwerfmaterialien zu verwenden. So kam ich irgendwann zu den Möbeln. Diese Möbel, die zum Teil größer als normal, zum Teil normal groß sind, werden zuerst aus Ton modelliert. Was mich interessiert, ist der heutige Fetischcharakter dieser Möbel und Objekte, mit denen ich aufgewachsen bin. 15 Jahre später wollte sie keiner haben, heute sind sie wieder gefragt. Sie kosten ein Vermögen: Vintage-Möbel, Kühlschränke aus den 1950ern, frühe Nokia-Telefone«, sagt der Bildhauer. Wurms Kühlschrank-Skulptur heißt übrigens Butter und sieht ein bisschen danach aus.
Wo Erwin Wurm ist, muss auch eine Gurke sein. Wie ein überdimensionales Symbol der Männlichkeit steht sie jetzt auf einem kleinen Sockel vor der Berlinischen Galerie und entzückt vor allem Frauen, die diese Kulisse gern nutzen, um Selfies zu machen. Die Ausstellung »Bei Mutti« hat also viele Facetten und allen etwas zu bieten. Doch was hat diese Schau, außer dem beengten Elternhaus, mit dem Titel zu tun? »Jetzt bin ich bei Mutti in Deutschland«, sagt der Künstler. Mutti machte ihre Grenzen auf, also ist auch er gekommen.
Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff
VG Wort, VG Bild-Kunst
Erwin Wurm
Bei Mutti
15.04. – 22.08.2016
Berlinische Galerie
Museum für moderne Kunst
Alte Jakobstraße 124 – 128
10969 Berlin