Die roten Ziffern der Uhr, die auf dem Nachtschrank steht, zeigen drei vor zwölf. Das düstere, spärlich möblierte Zimmer mit einer geblümten Tapete und einer altmodischen Lampe könnte ein Hotelzimmer sein. Über dem Bett hängt ein kitschiges Bild mit einigen Birken inmitten einer lieblichen Landschaft. In dem Zimmer, das eine gewisse kleinbürgerliche Solidität vermittelt, herrscht Unordnung. Es ist eine Landschaft nach einem Sturm, der diese vier Wände heimgesucht hat. Auf dem olivefarbenen Teppichboden liegen verstreute Kleidungsstücke, Damenschuhe und eine Damentasche, auf dem Bett steht ein offenes Schmuckkästchen, neben dem geöffneten Nachtschrank steht ein geöffneter Koffer. Die Spiegeltür des Wandschranks ist ebenfalls offen und gewährt einen Blick auf leere Bügel und einen Damensommerhut. Die Dame sieht man durch einen türlosen Rahmen, wie sie – starr auf den Boden blickend – nackt und mit blutverschmiertem linken Oberschenkel im Bad steht. Ihr Hinterkopf spiegelt sich im Badspiegel. Das den Blicken des Betrachters verborgene Klo spiegelt sich in der Spiegeltür des Wandschranks: Spiegelungen einer häuslichen Wirklichkeit, wie sie unwirklicher nicht sein könnte, gehören zum Lieblingsrepertoire des amerikanischen Fotokünstler Gregory Crewdson, der mit filmischen Mitteln und filmischem Aufwand ein stummes und unbewegliches Fotokino produziert, das sich in den Köpfen der Betrachter abspielt. Er ist ein Fotograf der Albträume und Neurosen des ländlichen und suburbanen Amerikas – ein Vorstadtneurotiker.
Amerikanische Mittelschicht im Zwielicht
Gregory Crewdson dringt hinter die Fassade der Häuser, die in einer hügeligen Landschaft stehen. Er zeigt plüschig-tapetengeblümte Interieurs, die Hotelzimmern gleichen und in denen seltsame Dinge geschehen: Eine spärlich bekleidete Frau liegt leblos im Wasser wie die schöne Leiche einer Vorstadt-Ophelia in der guten Stube. Eine Mutter sitzt mit ihrem Sohn an einem Tisch. Gedeckt wurde aber für vier Personen. Auf dem Tisch steht ein Sonntagsbraten, von dem Blut auf die Tischdecke rinnt. Frauen und Männer sitzen oder liegen in Nachthemden auf ihren Betten, teilnahmslos, erstarrt, unfähig zu verstehen, was geschehen war. Männer oder Frauen schichten in ihren Zimmern oder Garagen Rasen zu Bergen, pflanzen Blumen oder schütten Hügel aus getrockneten Blumen auf. Ein Kind steht im Pyjama mitten in der Nacht vor seinem Häuschen und starrt auf einen gelben Schulbus. Vor den Fenstern sieht man halbnackte schwangere Frauen; Männer vergraben oder graben im Wald Koffer aus. Autos verharren mit offenen Türen unbeweglich auf menschenleeren Straßenkreuzungen. Diese seltsamen Szenen erinnern an Traum- oder eher Albtraumsequenzen und sind im Zwielicht getaucht, denn im Zwielicht, in der Dämmerung, in der Blauen Stunde, wo es nicht mehr hell und noch nicht dunkel ist, inszeniert Gregory Crewdson am liebsten die Dämmerung der weißen amerikanischen suburbanen oder ländlichen Mittelschicht, einer Gesellschaft, die auf den Bildern des Fotografen aus New York im Untergang begriffen zu sein scheint. Er zeigt eine vertraute Häuslichkeit und ein auf den ersten Blick idyllisches Ambiente, das auf den zweiten Blick unheimlich, gar bedrohlich anmutet. Vor und hinter den minutiös und perfekt ausgeleuchteten Fassaden der Häuser herrscht eine Untergangsstimmung, deren Quelle jedoch im Dunkeln liegt. Die Menschen wirken verloren, wie auf den Bildern von Edward Hopper oder Eric Fischl. Die Polizisten und Feuerwehrleute, zum Einsatz gerufen, schenken den gestohlenen (?) Autos und den brennenden Häusern keine Aufmerksamkeit. Alle sind wie versteinert und entrückt, in sich gekehrt und abwesend. Gregory Crewdsons aufwendig und perfekt inszenierte Welt ist eine amerikanische Dämmerung zwischen dem ganz normalen Wahnsinn und der wahnsinnigen Normalität, gleichermaßen faszinierend und abstoßend.
Der amerikanische Albtraum
Bereits in seinem Early Work (1986-1988) gab sich der am 26. September 1962 als Sohn eines Psychoanalytikers in Brooklyn geborene Absolvent des Kunststudiums an der State University of New York und der Yale University als Chronist der trügerischen Häuslichkeit und der vermeintlich heilen amerikanischen Familie zu erkennen. Hinter den Fassaden der weißen und schmucklosen Holzhäuser, die in der lieblichen Hügellandschaft wie Fremdkörper wirken, leben entfremdete Menschen, die in unsichtbare Fernseher starren. Ihre kleinbürgerlichen, plüschigen und geblümten Interieurs sind genauso leer und ausdruckslos, wie ihre Augen und Seelen. Ihre Wohnungen sehen wie Hotelzimmer aus, in denen man sich auf der Durchreise ein Leben lang aufhält: Es sind triste Szenen eines lebenslangen Provisoriums, Stillleben der Hoffnungslosigkeit und des Unbehagens an einer Situation, die unheimlich erscheint, obwohl es nicht greifbar ist warum. Die inszenierte, also unwirkliche Wirklichkeit, für die Gregory Crewdson bereits in seinen ersten Fotoarbeiten ein meisterhaftes Gespür offen legte, wurde zu seinem Markenzeichen. Seine Fototableaus enttarnen den Mythos des amerikanischen Traums, der sich – zunehmend auch in den von den Weißen bewohnten Vororten – in einen Albtraum verwandelt. In der zwielichtigen Stunde der Dämmerung erwachen die Gespenster und lauern, noch bewegungslos, auf ihre Zeit. Das Grauen hält sich noch bedeckt, ist aber bereits allgegenwärtig. Natural Wonder (1992-1997), eine Serie, die die Aufmerksamkeit der Kritik auf sich zog, sind schaurig-schöne und gruselig-ästhetische Stillleben, die im Atelier des Künstlers entstanden. Sie muten wie altmeisterliche Ölbilder an mit ausgestopften Vögeln, die sehr lebendig aussehen. Die heile Natur ist eine Lüge, denn in gepflegten Gärten liegen tote Tiere, zwischen den Blumen und Sträuchern halb verborgen. Ein großer weißer Vogel blickt in einen Teich, in dem Plastikflaschen und Metallbüchsen schwimmen. Und in einem Dornengebüsch liegt ein blutiger und dornengespickter Fuß (es ist der bildbearbeitete Fuß des Künstlers), eine Anspielung an das im Rasen eines Gartens liegende Ohr im Film Blue Velvet von David Lynch. Der natürlichen Vergänglichkeit setzt Crewdson die von den Menschen verursachte Zerstörung ihrer Umgebung entgegen und spielt genüsslich mit den Mythen und Motiven der Religion und Kunst, die zum Repertoire der Popkultur geworden sind.
Metaphern für seelische Zustände
Aus der Bilderwelt, die der amerikanische Fotokünstler in seinem Kopf trägt (die besten Ideen kommen ihm beim Schwimmen), schafft er eine wirkliche Welt, die wegen ihrer rätselhaften Unheimlichkeit und des penetranten, perfekt und mit Liebe zum Detail inszenierten Grauens das Publikum und die Kritik wohlig erschaudern lässt. Ob schwarz-weiß wie in der Serie Hover (1996-1997), die er von oben fotografierte, oder in den farbigen Serien Twilight (1998-2002), Dream House (2002), Beneath the Roses (2003-2005) und Cathedral of the Pines (2016), zeigt er, dass das Böse nicht nur in der großen weiten Welt, sondern vor allem in den Menschen selbst und in ihren vier Wänden lauert. Seine malerischen und gruselig schönen, gleichsam flachen wie räumlichen Fotobilder, in denen er Motive aus der bildenden Kunst (Magritte, Hopper, Fischl) mit psychoanalytischen und filmischen Motiven (Freud, Lynch, Spielberg) mischt, sind anziehend und abstoßend, schön und gruselig zugleich. Auf der Suche nach Drehorten und dem Personal seiner rätselhaft in Szene gesetzten Geschichten, die eigentlich nichts erzählen, sondern vielmehr das Gefühl einer aus den Fugen geratenen Gesellschaft vermitteln, fährt Gregory Crewdson, der seit 1994 als Professor für Fotografie an der Yale University arbeitet, im Staat Massachusetts herum. Er kauft Häuser, die er zum Schauplatz seiner unwirklich-wirklichen Kunst macht oder die er für einige wenige Aufnahmen kontrolliert in Brand setzt. Er lässt »wirkliche« Menschen für seine unwirklichen Bilder posieren und überredet Frauen und Männer, alle Hüllen fallen zu lassen, um ihre nackte Haut und ihre nackte Existenz zu zeigen. Er ist der Regisseur eines Theaters des Alltags, der aus dem Alltag gerissen wird und nicht weiß, wohin die Reise geht, wenn die Menschen auf seinen Bildern aus der Starre erwachen. Um die albtraumhaft schönen Serien zu produzieren, ist dem amerikanischen Künstler kein Aufwand zu groß. Oft arbeitet er mit einer bis zu 200 Personen starken Filmcrew und sogar wie im Fall von Dream House mit Filmstars (Julianne Moore, Gwyneth Paltrow und William H. Macy) zusammen, die ihm, wie er betont, unentgeltlich ihre Dienste leisteten, denn die Arbeit an einem unbeweglichen Film macht ihnen großen Spaß. Gregory Crewdsons Bilder, die er Metaphern für seelische Zustände wie Angst, Panik und geheime Sehnsüchte nennt, sollen
das Publikum hypnotisieren, sodass es vor ihnen innehält, ohne darüber nachzudenken, wie sie entstanden sind. Licht und Schatten, das Setting, die Farben – das ist mein Handwerkszeug, um Geschichten zu erzählen.
Trümmer der Existenz
Diese schönen morbiden und unheimlichen Geschichten sind ein Panorama der amerikanischen Gesellschaft auf den Trümmern ihrer Existenz, Vorwegnahmen einer geahnten Katastrophe. Angesichts der Bilder, die im Zusammenhang mit dem Wirbelsturm Katrina (2005) und Sandy (2012) um die Welt gingen, scheint die unwirkliche Wirklichkeit, der US-amerikanische Künstler seit 30 Jahren unbeirrt und konsequent in Szene setzt, keine Inszenierung zu sein. Wie so oft übertrifft die Wirklichkeit die Kunst oder holt sie zumindest ein. Ich bin ein Realist, der Prophet des lange angekündigten Untergangs, sagt Gregory Crewdson
Text © Urszula Usakowska-Wolff
Drei Fotoarbeiten von Gregory Crewdson aus der Serie Beneath the Roses werden noch bis zum 23. März 2019 im Museum Frieder Burda / Salon Berlin gezeigt.
Gregory Crewdson im Hatje Cantz Verlag >>>