Niki de Saint Phalle in der SCHIRN: Kunst ohne Kanten im knalligen Ambiente
Niki de Saint Phalle in der SCHIRN: Kunst ohne Kanten im knalligen Ambiente

Niki de Saint Phalle in der SCHIRN: Kunst ohne Kanten im knalligen Ambiente

Was zuerst bei der Besichtigung der großen Übersichtsschau der nun auch in Frankfurt am Main weltberühmten und mit vielen Talenten gesegneten Autodidaktin Niki de Saint Phalle auffällt, ist die Inszenierung der Räume, für die die rührige Kunsthalle am Römerberg an Farben nicht gespart hat. Die Wände und Fußböden sind mit Rot, Magenta, Purpur, Violett und Dunkelblau gestrichen, vor und unter vielen Kunstwerken befinden sich weiße ovale oder langgestreckte rundliche Flächen, die wie überdimensionale Sprechblasen oder kleine Inseln anmuten. Niki de Saint Phalles – abgesehen von einigen wenigen Exponaten – nicht gerade monochromen Reliefs, Papierarbeiten und Skulpturen sehen in diesem dominanten Ambiente etwas gespenstisch aus: ein Eindruck, der durch das sich in ihnen spiegelnde künstliche Licht steigert. Die kleineren Objekte sind in Vitrinen untergebracht, was eine zwangsläufige doppelte Sicht ermöglicht: darauf, was sich in den Glaskästchen befindet – und auf die Bilder auf der gegenüberliegenden Wand. Weniger wäre vielleicht mehr, kann aber sein, dass diese Fülle der Künstlerin gefallen hätte, denn sie liebte das Überbordende, Ausufernde, Monumentale. Die ihr gewidmete Retrospektive in der SCHIRN zeigt anhand von 100 Arbeiten, darunter die frühen Gemälde sowie kleine Assemblagen (Landschaften und Stillleben aus Fundstücken und Alltagsgegenständen), Schießbilder, ferner monumentale Assemblagen, in denen sie sich mit der weiblichen Identität beschäftigt und die traditionellen Rollenbilder von Frauen in Frage setzt, Nanas, Die verschlingenden Mütter, Entwürfe und Modelle des Tarot-Gartens, Plakate, Grafiken zur Unterstützung der Anti-AIDS-Kampagne und noch vieles mehr. Niki de Saint Phalles nicht chronologisch angeordnete Schau endet mit drei phallischen Skulpturen Trilogie der Obelisken, 1987, und dem wie viele ihre Plastiken mit Mosaiksteinchen und Spiegelmosaikfliesen verziertem, frech grinsenden und der Vergänglichkeit trotzenden Schädel, Meditationsraum, 1990.

Niki de Saint Phalle, Trilogie der Obelisken, 1987 (l) und Schädel, Meditationsraum, 1990, SCHIRN, 2.02.2023. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Niki de Saint Phalle, Trilogie der Obelisken, 1987 (l) und Schädel, Meditationsraum, 1990, SCHIRN, 2.02.2023. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Kunst bedeutet Freiheit

Niki de Saint Phalle (29.10.1930 in Neuilly-sur-Seine–22.05.2002 in San Diego), Tochter einer Amerikanerin und eines adligen französischen Bankiers, die als Zweijährige mit ihren Eltern nach New York zog, ist eine der bekanntesten und eigenwilligsten Künstlerinnen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Katholisch erzogen, lehnte sie sich gegen Religion, Heuchelei und die von Männern – Vätern und Gatten – dominierte Gesellschaft mit patriarchalen Strukturen auf. Sie rebellierte gegen die Rolle der fürsorglichen Ehefrau und Mutter, ließ sich von ihrem ersten Ehemann Harry Mathews scheiden, in dessen Obhut ihre beiden Kinder blieben, um in der Kunst das, was sie am meisten brauchte, zu finden: einen offenen Raum, der ihr die Möglichkeit gab, das zu tun und zu zeigen, was sie bewegte und worauf sie aufmerksam mache wollte. Kunst bedeutete für sie eine grenzenlose Freiheit und eine schier unerschöpfliche Kreativität. Die Kunst brachte sie sich selbst bei, schuf, nach einer kurzen Phase der Malerei, Reliefs aus Fundstücken, aus dem Weggeworfenen, Unbrauchbaren, Kaputtem, aus Haushaltsgegenständen, Steinen, Scherben, Plastikspielzeug, darunter auch Flugzeuge, Pistolen und Puppen. In den 1950er Jahren versuchte sie sich zuerst als Malerin. In ihren naiv-surrealen, neodadaistischen Collagen und Drip Paintings verarbeitete sie Einflüsse, die damals in der Kunst vorherrschend waren. Da sie zunehmend Objekte in ihre Gemälde integrierte, entstanden Arbeiten, die in den Raum ragten: ihre ersten, mit der Zeit immer größer werdenden Wand-Assemblagen. Nikis kompromisslose Haltung, Experimentierfreude, die Missachtung jeglicher Konventionen imponierte ihren Künstlerkollegen, sodass sie Anfang der 1960er Jahr als einzige Frau in die vom Kunstkritiker Pierre Restany gegründete Gruppe Nouveaux Réalistes aufgenommen wurde.

Niki de Saint Phalle, King Kong, 1962, SCHIRN, 2.02.2023. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Niki de Saint Phalle, King Kong, 1962, SCHIRN, 2.02.2023. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Kathedrale zwischen den Schenkeln

Bis heute wird sie vor allem für ihre überlebensgroßen, üppigen und zugleich grazilen, bunten und lebensfrohen Nanas gefeiert, eine Mitte der 1960er Jahre begonnene Werkgruppe der Gips- und später Kunststoffskulpturen, die der kleinen und zierlichen Künstlerin internationale Popularität bescherten und zu ihrem Markenzeichen wurden. Sie stehen oder schweben einzeln oder in Gruppen fast überall auf der Welt: an vielen öffentlichen Orten in Deutschland, Paris, Zürich, Luzern, New York, Brüssel, Genf, Tokio, Amsterdam und Los Angeles. Dass sie hier und da nicht von Anfang an willkommen waren, auf Kritik und Empörung des Publikums stießen, ist längst vergessen. Für die große Halle des Moderna Museet in Stockholm schuf die Künstlerin 1966 eine gigantische Nana unter dem Titel Hon – en katedral (Sie – eine Kathedrale), die als Größte Hure der Welt bezeichnet wurde: Eine liegende sechs Tonnen schwere, 26 Meter lange, neun Meter breite und sechs Meter hohe Super-Nana. Was zu einem Skandal werden könnte, entpuppte sich als ein riesiger Erfolg. Durch die keineswegs geheime Öffnung zwischen Hons Schenkeln strömten täglich rund 2000 Besucher in ihr mit Bar, Kino und Bibliothek ausgestattetes Inneres, das von den Künstlern Jean Tinguely und Per Olof Ultved gestaltet wurde.

Niki de Saint Phalle, Blick in die Ausstellung, SCHIRN, 2.02.2023. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Niki de Saint Phalle, Blick in die Ausstellung, SCHIRN, 2.02.2023. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Terroristin der Kunst

Bevor die rebellische Komtesse, die aus einer der ältesten französischen Familien stammte, mit ihren üppigen, rundlichen (und kleinköpfigen) Frauenskulpturen, die dem gängigen Schönheitsideal trotzten, internationale Berühmtheit erlangte, sorgte sie in der Fachwelt mit den Tirs für Schlagzeilen. Die SCHIRN zeigt, dass Niki eine Pionierin der interdisziplinären, partizipativen Kunst war, die mit ihren Schießbildern auch als Performerin Kunstgeschichte geschrieben hatte. Anfang der 1960er Jahre begeisterte sie Robert Rauschenberg und Jasper Johns, die ihre aggressiven Instinkte auslebten, indem sie sich an den explosiven Schießaktionen beteiligten. Auch das Publikum durfte auf die mit Gips überzogenen, weißen Assemblagen schießen, unter deren Oberfläche sich mit roter Farbe gefüllte Beutel befanden. Wurden sie getroffen, platzten sie und eine Flüssigkeit, die wie echtes Blut aussah, floss herunter. Niki de Saint Phalle, die als Zwölfjährige von ihrem Vater wiederholt sexuell missbraucht wurde, nannte sich damals Terroristin der Kunst und versuchte auf ihre Art, sich von den traumatischen Kindheitserlebnissen zu befreien, indem sie auf Daddy, auf alle Männer schoss. Zu den Frauen, die sie zuerst als Opfer der männlichen Fantasien, Hexen, Huren, Sexobjekte und Gebärmaschinen darstellte, darunter die in der SCHIRN ausgestellten Skulpturen Die Braut zu Pferd (1963–1997) oder Altar der Frauen (1964), gesellten sich in den 1970er Jahren Die verschlingenden Mütter. In den Skulpturen Tea Party, oder Tee bei Angelina, 1971, und Die Körperpflege, 1978, setzte sie sich mit ihrer lange Zeit idealisierten Mutter auseinander, die Daddys-Übergriffe auf ihre Tochter nicht sehen wollte oder stillschweigend akzeptierte und sich dem leiblichen Wohl und der Verschönerung ihres alternden und ausufernden Körpers hingab.

Niki de Saint Phalle, Die Körperpflege, 1978, SCHIRN, 2.02.2023. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Niki de Saint Phalle, Die Körperpflege, 1978, SCHIRN, 2.02.2023. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Böse und freundliche Monster

In ihrem surrealen Film Daddy zielte Niki 1972 zum letzten Mal auf die verhassten Väter. Danach wurden ihre riesigen triumphierenden Nanas zum Inbegriff des Matriarchats. Männer waren sehr erfinderisch. Sie haben alle diese Maschinen erfunden, das Industriezeitalter, aber sie haben keine Ahnung, wie man die Welt verbessert, sagte sie 1996 dem Regisseur Peter Schamoni, der über sie den Film Wer ist das Monster – Du oder ich? drehte. Seit Anfang der 1980er Jahre beschäftigte sie sich mit freundlichen Monstern. Die Künstlerin, die vor allem in Frankreich und den USA lebte, zog in die Toskana und arbeitete zusammen mit Jean Tinguely (1925–1991), ihrem zweiten Ehemann, an dem 1998 fertig gestellten Tarot-Garten in Capalbio. Der Zaubergarten mit bewohnbaren Skulpturen, ein Wirklichkeit gewordener Traum, war Niki de Saint Phalles Lebenswerk. Tod, Pferd oder Teufel heißen ihre bunten und lebensbejahenden Monsterbauten: Trumpfkarten des Tarot- Kartenspiels. In den Tarot-Garten, den sie durch den Verkauf ihrer Arbeiten und des für diesen Zweck kreierten Parfums finanzierte, investierte sie mehr als 4,5 Millionen Euro. Ich habe für diesen Garten alles geopfert. Meinen Geliebten und mein Privatleben, meinte sie dazu. Für ihre Plastiken setzte die Künstlerin ihre Gesundheit aufs Spiel. Sie atmete jahrelang gefährliche Kunststoffdämpfe ein und litt schließlich unter einem lebensgefährlichen Emphysem, einer Aufblähung der Lunge. Im kalifornischen San Diego, wo Niki de Saint Phalle seit 1993 wohnte, schien sie sich von ihrer Krankheit zu erholen. Noch neun Jahre konnte sie sich dort am Leben erfreuen und an ihren großen Skulpturenprojekten arbeiten: Sie starb am 21. Mai 2002 an den Folgen einer Lungenentzündung.

Niki de Saint Phalle, Temperance, 1986-87, SCHIRN, 2.02.2023. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Niki de Saint Phalle, Temperance, 1986-87, SCHIRN, 2.02.2023. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Inklusiv, partizipativ, kooperativ

Die Ausstellung Niki de Saint Phalle in der SCHIRN führt auf eine überzeugende und nachvollziehbare Weise vor, wie die Malerin, die ihre Laufbahn mit kleinen, nicht besonders originellen Bildern begann, sich in einer relativ kurzer Zeit zur international gefeierten Bildhauerin, deren monumentale Skulpturen den öffentlichen Raum in vielen Ländern der Welt schmücken und vom Publikum gern besucht werden, entwickelte. Zu ihrer künstlerischen Praxis gehörte von Anfang an die Überzeugung, dass die Kunst ihren Elfenbeinturm verlassen muss, um Menschen zu erreichen, sie zum Mitmachen zu motivieren und zu helfen, ihre persönlichen Probleme und die der Gesellschaft zu erkennen und somit das Leben und Zusammensein mit anderen erträglicher zu gestalten. Sie arbeitete auch gern mit ihren Künstlerkollegen zusammen. Nach heutiger Begrifflichkeit war sie eine Künstlerin, die sich unermüdlich und mit großem Erfolg für die Partizipation, Inklusion und Kooperation einsetzte. Sie war auf vielen Gebieten tätig, drehte Filme, schrieb Theaterstücke, nahm aktiv am Zeitgeschehen teil. Trotz ihrer schmerzhaften Kindheitserlebnissen, die sie auf ihre explosive Art bewältigte, hatte sie viel Humor. Der manifestiert sich auch in ihren düstersten und brutalsten Werken. Im Nachhinein machte sie eine dekorative Kunst, die Energie, Selbstbewusstsein und Sinnlichkeit ausstrahlt. Eine beglückende Kunst ohne Kanten aus dem Reich der Fantasie, die viele Menschen begeistert – und Niki de Saint Phalle die Unsterblichkeit garantiert.

Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff

Niki de Saint Phalle, Blick in die Ausstellung, SCHIRN, 2.02.2023. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Niki de Saint Phalle, Blick in die Ausstellung, SCHIRN, 2.02.2023. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Niki de Saint Phalle
Eine Ausstellung in Kooperation mit dem Kunsthaus Zürich
3. Februar – 21. Mai 2023
SCHIRN >>>
Römerberg, 60311 Frankfurt am Main

Niki de Saint Phalle, Blick in die Ausstellung, SCHIRN, 2.02.2023. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Niki de Saint Phalle, Blick in die Ausstellung, SCHIRN, 2.02.2023. Foto © Urszula Usakowska-Wolff