Renée Sintenis: Göttin und Garçonne
Renée Sintenis: Göttin und Garçonne

Renée Sintenis: Göttin und Garçonne

Alle Jahre wieder kommt die Berlinale, zu deren Höhepunkten die Verleihung des Goldenen und des Silbernen Bären gehört. Die Trophäe der Berlinale stammt aus der Hand von Renée Sintenis.

Von Urszula Usakowska-Wolff

Sie überragte alle um einen Kopf und stellte viele Männer in den Schatten: Renée Sintenis war eine der erfolgreichsten und bestverdienenden Künstlerinnen der Weimarer Republik. Und das in einer Domäne, die zu der Zeit den Frauen vorenthalten war: der Bildhauerei. Die Sintenis, wie man sie zu nennen pflegte, 179 cm groß, was sie damals wie eine Riesin erscheinen ließ, eroberte die Kunstwelt mit kleinen niedlichen Tierchen. Ihre Bronzeplastiken, in denen sie bevorzugt Jungtiere wie Fohlen, Esel, Kälbchen, Ziegen- und Steinböcke, Rehe, Hunde und Bären darstellte, waren etwas Sensationelles, galt doch die Bildhauerei lange Zeit als eine Kunst, deren Aufgabe es war, Große Männer: Kaiser, Kriegsführer, Dichter, Denker und andere Helden auf monumentalen Denkmälern zu verewigen.

Drollige Wesen

Ihre ersten Tierfiguren aus Bronze »Junges Reh« und »Kniendes Reh« sowie eine Terrakottamaske ihres Gesichts zeigt Renée Sintenis 1915 in der Herbstausstellung der Berliner Künstlergruppe Freie Secession am Kurfürstendamm 232. Das Publikum ist von den Arbeiten der 27-jährigen begeistert, die Kritik wird auf sie aufmerksam. Der angesehene Kunstkritiker, Schriftsteller und Publizist Julius Meier-Graefe feiert die Sintenis als eine Frau, der es zum Glück nicht einfällt, »dem Mann in bornierte Intellektualität zu folgen«, die es vorzieht, statt »klotzige Fäuste, mannhafte Waden, wulstige Pferdeschwänze und den durchbohrenden Heroenblick, Kinder in die Welt zu setzen, drollige Wesen, beileibe keine Germania, keine Adam und Eva, noch die lüsterne Glätte finsterer Weiber. Dinger aus dem Spielkasten setzt sie hin. Man merkt auf einmal, dass deutsche Plastik lächeln kann. Eine Frau hat kommen müssen, um es zu zeigen. Eine Frau, nichts weiter.«

Renée Sintenis, Großes kniendes Reh, 1930. Ausstellung "Berliner Bildhauerin (1988 – 1965)", Georg-Kolbe-Museum, 2013/2014. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Renée Sintenis, Großes kniendes Reh, 1930. Ausstellung „Berliner Bildhauerin (1988 – 1965)“, Georg-Kolbe-Museum, 2013/2014. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Selbstverständliches Müssen

Seitdem avancierte die Sintenis, liebevoll-ironisch als »Riesin mit dem Kleintierzoo« bezeichnet, zum unumstrittenen Star des Kunstmarktes und der Society. Vor allem in den Goldenen Zwanzigern war ihre Popularität enorm, als ob die mondäne und bürgerliche Kunstkundschaft nur darauf wartete, ihre Salons mit den sympathischen Viechern zu schmücken. Die »drolligen Wesen« waren ein Verkaufsschlager, sie eigneten sich für Geschenke: eine frühe Version der Pop Art, die sowohl für die Reichen als auch für die weniger Reichen erschwinglich war. Die Nachfrage war so groß, dass die geschäftstüchtige Frau von jeder Figur, die sie in Gips modellierte, bis zum 35 handsignierte Exemplare in Bronze gießen ließ. Von Anfang an arbeitete sie mit der Bildgießerei Hermann Noack, die sich damals in Berlin-Friedenau befand, zusammen. »Ich selber habe nie gewusst, ob ich viel oder wenig oder ob ich überhaupt etwas Besonderes kann. Ich glaube es nur, weil die anderen es mir stets vom neuen sagen und ich am Erfolg die Wirkung merke. Mir ist mein Schaffen nichts anderes als ein selbstverständliches Müssen«, schrieb die Bildhauerin im 1931 von Ada Schmidt-Beil herausgegebenen Buch »Die Kultur der Frau. Eine Lebenssymphonie der Frau des XX. Jahrhunderts«.

Renée Sintenis, Der Esel von Seelow, 1927. Ausstellung "Renée Sintenis. Berliner Bildhauerin (1988 – 1965)". Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Renée Sintenis, Der Esel von Seelow, 1927. Ausstellung „Renée Sintenis. Berliner Bildhauerin (1988 – 1965)“. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Reinste Qual

Dass Renée Sintenis zu einer der schillerndsten Protagonistinnen der Berliner Boheme und einer gefragten und hoch bezahlten Künstlerin aufsteigen wird, lag nicht auf der Hand. Sie wurde am 20. März 1888 im niederschlesischen Glatz als Renate Alice Sintenis geboren. Ihr Vater, der aus einer hugenottischen Familie stammte, war Justizrat. Die Eltern ihrer Mutter waren zum Protestantismus konvertierte Juden. Ihre Jugend verbrachte das zu hoch gewachsene und magere Mädchen in Neuruppin und Stuttgart. In der Schule wurde sie für ihr Aussehen gehänselt, zog sich zurück, entdeckte ihre große Zuneigung zu Pferden und Hunden, die sie zu zeichnen begann. 1905 zog sie mit ihrer Familie nach Berlin, wo ihr Vater eine Stelle als Rechtsanwalt am Kammergericht bekam. 1907 begann Renate Alice ihr Studium an der Unterrichtsanstalt des Berliner Kunstgewerbemuseums, in der Klasse für Dekorative Plastik, die der Bildhauer Wilhelm Havekampf leitete. 1910 wurde sie von ihrem Vater gezwungen, das Studium abzubrechen, um in seinem Anwaltsbüro als Sekretärin zu arbeiten. Für Renate war das aber »reinste Qual.« Sie brach alle Kontakte zu ihrer Familie ab, denn sie wollte Bildhauerin werden. 1917 heiratete sie den Mann, der ihr dabei half: den Maler, Schriftgestalter und Illustrator Emil Rudolf Weiß.

Renée Sintenis, Vollblutfohlen, 1939 . Ausstellung "Renée Sintenis. Berliner Bildhauerin (1988 – 1965)". Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Renée Sintenis, Vollblutfohlen, 1939 . Ausstellung „Renée Sintenis. Berliner Bildhauerin (1988 – 1965)“. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Großstadtamazone

Obwohl es in der Berliner Boheme nicht an Paradiesvögeln mangelt, fällt Sintenis, die sich als Künstlerin Renée nennt, besonders auf. Von ihren ersten Einkünften kauf sie sich ein Pferd: eine Großstadtamazone, die morgens im Tierpark reitet. Sie ist Göttin und Garçonne, distanziert und burschikos, fährt einen Studebaker, trägt schulterlose Kleider, Männeranzüge und Schleifen. Sie ist androgyn, selbstbewusst und emanzipiert, ein Medienstar, die meistfotografierte »Neue Frau« der Weimarer Republik. Mit ihrem Freund Ringelnatz zieht die »Indianerschöne« durch Jazzlokale und Szenekneipen. Ihr Kunsthändler ist Albert Flechtheim. 1922, nach der Eröffnung seiner Galerie am Lützowufer 13 in Berlin, wird sie schnell zu einem der besten Rennpferde im Flechtheims Stahl. 1931 wird sie als erste Bildhauerin und zweite Künstlerin nach Käthe Kollwitz in die Akademie der Künste aufgenommen, aus der sie drei Jahre später, wie alle anderen »nichtarischen« Mitglieder, von den Nationalsozialisten ausgeschlossen wird. Bis zum Ende des Kriegs lebt sie ziemlich unbehelligt, obwohl sie jederzeit damit rechnet, deportiert zu werden. 1943 stirbt überraschend ihr Mann. Nach dem Krieg wird sie wieder als große Künstlerin gefeiert, mit Auszeichnungen überschüttet, in die West-Berliner Akademie der Künste aufgenommen. Eine Grundschule in Berlin-Frohnau wird nach ihr benannt. Die Trophäe der Berlinale, der Goldene und Silberne Bär sowie mehrere lebensgroße Bronzeplastiken des Berliner Bären in West-Berlin, Düsseldorf und München stammen aus ihrer Hand. Doch die Künstlerin scheint das Interesse am gesellschaftlichen und künstlerischen Leben verloren zu haben. Die meiste Zeit verbringt sie in ihrer kleinen Wohnung in der Innsbrucker Straße 23, die sie mit ihrer Haushälterin und Lebensgefährtin Magdalena Goldmann teilt. Renée Sintenis stirbt am 22. März 1965.

Renée Sintenis, Der Bock, 1927. Ausstellung "Renée Sintenis. Berliner Bildhauerin (1988 – 1965)". Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Renée Sintenis, Der Bock, 1927. Ausstellung „Renée Sintenis. Berliner Bildhauerin (1988 – 1965)“. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Mutter der Multiples

Lange Zeit war es um Renée Sintenis still geworden. Ihre letzte große Ausstellung fand 1984 im Georg-Kolbe-Museum statt. 30 Jahre später war Renée Sintenis´ Kunst wieder im Kolbe-Museum zu sehen. So konnte man sich überzeugen, dass sie nicht nur »drolliger Wesen« in die Welt setzte. Die aus über einhundert Exponaten bestehende Schau zeigte die Vielfalt der Sintenis, ihr handwerkliches Können, und ihren präzisen Blick. Ihre filigranen Plastiken: Tänzerinnen, Knaben, Tiere und Sportler sind an Dynamik kaum zu übertreffen, sie sind eingefrorene Bewegung. In flachen schwarz gepolsterten Vitrinen standen verschiedene Figurengruppen, die vorführten, dass Renée Sintensis als »Mutter der Multiples« betrachtet werden kann. Beeindruckend sind auch ihre Zeichnungen, wo sie mit einigen wenigen Strichen das Wesen von Mensch und Tier erfasst. Ihre stärksten Arbeiten sind, neben der überlebensgroßen Plastik »Daphne« (1930), die Büsten und Masken, die sie für ihre Freunde schuf. Ihre eigenen »Masken« aus Bronze zeigen ihr Gesicht im Wandel der Zeit. Doch in dieser Ausstellung sahen wir nicht nur die Welt aus der Sicht von Renée Sintenis. Auch die Sicht der anderen auf die Künstlerin mit den markanten Gesichtszügen wurde gezeigt. Dazu gehören Bilder ihres Mannes Emil Rudolf Weiß, der sie gern in häuslicher Umgebung malte, ferner zahlreiche Fotos, die versuchen, einer seltsam entrückten Frau näherzukommen, was aber selten gelingt. Auf den meisten dieser Porträts, auch auf denen, die von unbestrittenen Meisterinnen der Fotografie wie Frieda Ries und Käthe Augstein stammen, wirkt Renées Konterfei wie eine Maske. Eine seltene Symbiose zwischen Kunst und Leben.


Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff, VG Wort, VG Bild-Kunst

Erschienen im  strassen|feger  2/2014


Silke Kettelhake, Renée Sintenis: Berlin, Boheme und Ringelnatz. Osburg Verlag

Buchtipp: 

Silke Kettelhake

Renée Sintenis
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Osburg Verlag

Preis 13,50 Euro