Was für ein Leben! Was für ein Mensch! Was für ein Künstler! Die Ausstellung »Oskar Kokoschka: Humanist und Rebell« im Kunstmuseum Wolfsburg
Was für ein Leben! Was für ein Mensch! Was für ein Künstler! Die Ausstellung »Oskar Kokoschka: Humanist und Rebell« im Kunstmuseum Wolfsburg

Was für ein Leben! Was für ein Mensch! Was für ein Künstler! Die Ausstellung »Oskar Kokoschka: Humanist und Rebell« im Kunstmuseum Wolfsburg

So viel Kokoschka war schon lange nicht: In Wolfsburg, der VW-Stadt, nur eine Stunde Bahnfahrt von Berlin entfernt, zeigt das Kunstmuseum die beeindruckende Ausstellung eines der wichtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts, der, am Anfang seiner Laufbahn als Bürgerschreck, enfant terrible und »Oberwildling« apostrophiert, im letzten Drittel seines langen Lebens vor allem als Porträtist von Politikern und Prominenten großes Ansehen genoss. »Oskar Kokoschka. Humanist und Rebell« heißt diese Schau, die anhand von 50 Gemälden, 138 Papierarbeiten, Skulpturen und zahlreichen Dokumenten tiefe und intime Einblicke in das einzigartige Werk und die turbulente Vita einer Persönlichkeit gewährt, die noch immer fasziniert, anregt und sehr aktuell wirkt.

Von Urszula Usakowska-Wolff

Die von Beatrice von Bormann kuratierte Schau ist in elf Kapitel unterteilt: »Kokoschkas Lehrjahre«, »Frühe Bildnisse«, »Herwarth Walden und Der Sturm«, »Alma Mahler«, »Die Macht der Musik«, »Kinderbildnisse«, »Kokoschka in Dresden«, »Tierporträts«, »Allegorische Frauenbildnisse«, »Humanistisches Engagement« und »Selbstbildnisse«. Die Ausstellung bildet den Höhepunkt der Feierlichkeiten zum 20. Jubiläum des Kunstmuseums Wolfsburg, das 1994 mit einer Fernand-Léger-Retrospektive seine Tätigkeit begann, und ist zugleich eine Hommage auf Markus Brüderlin, den langjährigen Direktor des Hauses, der am 14. März im Alter von 55 Jahren plötzlich verstarb.

Start mit Body Art

Oskar Kokoschka war ein Multitalent: Zeichner, Maler, Grafiker, Schriftsteller, Erneuerer und Visionär der Kunst, dem es gelungen war, seine Ideen zu verwirklichen, ohne auf die jeweiligen Moden oder Moralvorstellungen zu achten. Er war immer ein Verfechter der gegenständlichen Malerei. Er malte meisterhafte Porträts und allegorische Bildnisse, die man jetzt in Wolfsburg bewundern kann; Landschaften, Städtebilder; er schrieb sechs Dramen, die zu den Höhepunkten des Expressionismus gehören. Kokoschka war auch ein begnadeter Selbstdarsteller, der schon früh verstand, dass ein Künstler nur dann erfolgreich sein kann, wenn er sich gekonnt in Szene setzt: Nur eine gelungene Provokation sorgt in den Medien für Irritation, wodurch ihr Urheber zu einer Sensation wird. Seinen ersten Skandal entfachte der Student der Kunstgewerbeschule in Wien als Dramatiker. Die Premiere seines Stücks »Mörder, Hoffnung der Frauen« fand am 4. Juli 1909 im Sommertheater in der Kunstschau statt. Im Vorfeld der Aufführung sorgte sein Plakat für Schlagzeilen. Darauf stellte er eine furchteinflößende, bleiche und dem Tod ähnelnde Frau, eine Pieta dar, die ein kleines, lebloses und blutüberströmtes Männchen umklammerte: Symbol des Geschlechterkampfes. Kein Wunder, dass die Karten lange vor der Uraufführung ausverkauft waren. Das Publikum konnte einem Spektakel beiwohnen, in dem die halbnackten, von Kokoschka bemalten Schauspieler wie eine Horde Wilder auf der Bühne tobte. Es war eine der ersten Performances in der neueren Kunstgeschichte: Die Body Art war geboren. Ihr Vater war der 23-jährige Oskar Kokoschka, Spross einer kleinbürgerlichen Familie aus Niederösterreich, deren Vorfahren Goldschmiede in Prag waren. Dank dem Aufsehen, das sein Theaterstück erregte, wurde Kokoschka, der am 1. März 1886 in Pöchlarn zur Welt kam, einerseits als »junges Talent« der Wiener Moderne gefeiert, andererseits hatte ihn die Kunstkritik vehement abgelehnt, sodass er sich den Kopf kahlrasieren ließ.

Oskar Kokoschkas Palette und Buntstifte, Kunstmuseum Wolfsburg, Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Oskar Kokoschkas Palette und Buntstifte, Kunstmuseum Wolfsburg, Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Halluzination und menschliche Projektion

Doch bevor er ein kahler Maler wurde, erlebte er etwas, was seine Malerei, die bis zum damaligen Zeitpunkt unter dem Einfluss von Vincent van Gogh, Edvard Munch und Egon Schiele stand, unverkennbar und einzigartig machte: »Es war eine Mondnacht, als ich nach der Aufführung von >Mörder, Hoffnung der Frauen< nach Hause ging«, erzählte er in der NDR-Fernsehdokumentation »Oskar Kokoschka. Ein Selbstporträt« (1966). »Da hatte ich eine Halluzination: Ich schwebte im Raum. Ich verstand, dass der Mensch im Raum schwebt und ich den Menschen im Raum schaffen muss. Wenn man damals Porträts gemalt hat, waren das mehr oder weniger kolorierte Fotografien. Das Neue von mir war, dass ich die Ausstrahlung, die Aura des Menschen im Raum widergegeben habe, unbewusst, denn ich hatte ja keine Technik. Ich war da wohl begabt in dieser Weise, aber es war genau das Gegenteil von dem, was damals Mode war. Jetzt sagt man wieder, es gibt keinen Raum in der Malerei, die Malerei muss zweidimensional sein. Malerei hat mit Logik nichts zu tun. Der Raum ist nichts anderes, als eine menschliche Projektion, eine Projektion der menschlichen Fantasie.« Oskar Kokoschka hatte Glück, denn seine Fantasie, sein unkonventionelles Wesen und die Auseinandersetzung mit dem damals vorherrschenden Jugendstil, mit dem Diktat des Ornaments, fand Anerkennung und Unterstützung wichtiger Persönlichkeiten, die ihm weiterhalfen, sodass er über die Runden kam. Einer seiner Förderer war Adolf Loos, Wegbereiter der modernen Architektur, Autor der berühmten Abhandlung »Ornament und Verbrechen«, der ihm zu Porträtaufträgen verhalf und schon früh seine Kunst sammelte. Loos machte ihn auch mit Herwarth Walden, dem Herausgeber von »Der Sturm« in Berlin bekannt. Kokoschka kam Ende April 1910 für ein Jahr nach Berlin und arbeitete als Zeichner mit dieser bedeutenden Zeitschrift des deutschen Expressionismus zusammen. Der Kontakt mit Walden riss erst 1916 ab, als Kokoschka einen Vertrag mit dem Berliner Galeristen Paul Cassirer unterschrieb.

Blick in die Ausstellung "Oskar Kokoschka. Humanist und Rebell", Kunstmuseum Wolfsburg, 2014. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Blick in die Ausstellung „Oskar Kokoschka. Humanist und Rebell“, Kunstmuseum Wolfsburg, 2014. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Humanist, Kavallerist und Pazifist

Als Oskar Kokoschka ein »kleiner Bub« war, schenkte ihm sein Vater, ein Handelsreisender, zwei Bücher, die einen entscheidenden Einfluss auf die Geisteshaltung und die Motivwahl des künftigen Künstlers haben sollten: die Homerische »Odyssee« und ein Reprint des 1653 erschienen illustrierten Jugend- und Schulbuchs »Orbis sensualium pictus« (Die sichtbare Welt) des mährischen Humanisten Johann Amos Comenius. Darin entdeckte er seine Welten: die der griechischen Antike und der Mittelmeerkultur und die der europäischen Aufklärung. Doch bevor er sich auf die Suche nach ihren Spuren und Zeugnissen begeben konnte, zog er Ende 1914 als Freiwilliger und Kavallerist in den Krieg. Das war seine Flucht vor der amour fou zur Alma Mahler, der er 1912 in Wien begegnete und die er heiraten wollte, doch sie ihn nicht. Er wurde in der Ukraine schwer verwundet und 1916 aus dem Kriegsdienst entlassen. Seitdem verabscheute er den Krieg und blieb bis zum Ende seines Lebens Pazifist. 1919 berief ihn die Kunstakademie in Dresden als Professor. Weil er die Trennung von Alma Mahler und die Tatsache, dass sie ihr gemeinsames Kind abgetrieben hatte, lange Zeit nicht überwinden konnte, ließ er sich seine Geliebte als Puppe anfertigen. Sie diente ihm als Modell für viele seiner Alma-Mahler-Porträts. Nach vier Jahren an der Dresdner Kunstakademie nahm er unbezahlten Urlaub und kehrte nie wieder in sein Amt zurück. Bis 1930 unternahm er ausgedehnte Reisen durch Europa, Vorderasien und Nordafrika. Von 1931 bis 1934 lebte Kokoschka wieder in Wien, doch er flüchtete dann nach Prag und von dort 1938 nach London. Als Pazifist, Humanist und »Entartetster unter den Entarteten« musste er im Dritten Reich um sein Leben fürchten. Die Nationalsozialisten beschlagnahmten 417 seiner Werke aus deutschen Museen, viele seiner Arbeiten wurden zerstört. 1953 übersiedelte er mit seiner Frau Olda Palkovská, die er 1941 in einem Luftschutzbunker in London heiratete, in die Schweiz: nach Villeneuve unweit von Montreux am Genfer See. 1966 malte er das Porträt des Bundeskanzlers Konrad Adenauer. Das von der Illustrierten »Quick« bezahlte Honorar – 200 000 DM, spendete der Künstler den Kindern obdachloser Eltern. Oskar Kokoschka starb am 22. Februar 1980 im Alter von 94 Jahren in seinem Schweizer Domizil.

Blick in die Ausstellung "Oskar Kokoschka. Humanist und Rebell", Kunstmuseum Wolfsburg, 2014. Foto © Urszula Usakowska-Wolff
Blick in die Ausstellung „Oskar Kokoschka. Humanist und Rebell“, Kunstmuseum Wolfsburg, 2014. Foto © Urszula Usakowska-Wolff

Respekt für das Geschöpf

Was für ein Leben! Was für ein Mensch! Was für ein Künstler! Die Ausstellung »Oskar Kokoschka: Humanist und Rebell« im Kunstmuseum Wolfsburg feiert eine Persönlichkeit, der alle Höhen und Tiefen des 20. Jahrhunderts zuteil wurden, einen aufrichtigen und ehrlichen Mann, der trotz seiner Erlebnisse den Glauben an die Menschheit und ihre Errungenschaften nicht verloren hat. Die gleichermaßen spektakuläre wie intime Schau ist ein faszinierender Einblick in dieses Leben, das sich in Porträts seiner Zeitgenossen und in seinen Selbstbildnissen widerspiegelt. Sie bringt uns, wie in einem begehbaren Buch mit elf Kapiteln, einen Künstler näher, der stets an seinem Menschenbild festhielt, das heißt, er stellte die Abgebildeten ungeschönt dar, und zwar in ihrer ganzen Verletzlichkeit, Unvollkommenheit und Gebrechlichkeit: Freunde, Geliebte, Geistesgrößen, Proletarierkinder, Politiker, bekannte, unbekannte, vergessene und unvergessliche Gesichter; Ein Facebook, das alle Achtung verdient. Die Bilder wirken außergewöhnlich plastisch, man merkt, dass Kokoschka ein malender Bildhauer war. Allein seine Tierporträts sind einer Reise nach Wolfsburg wert, denn sie zeigen die Seele und die Individualität jeder einzelnen Kreatur. Der Respekt für das Einzelne, das Eigene, das Unwiederholbare, welches in allen Geschöpfen steckt, macht Kokoschkas Humanismus aus. Er beugte sich nie den künstlerischen Zwängen und blieb der figurativen Malerei treu, was nach dem Zweiten Weltkrieg als überholt und »unmodern« galt. Er war also durchaus ein Rebell, der gegen die künstlerische Konformität aufbegehrte. Dass er seiner Zeit weit voraus war und die Kunst bis heute noch beeinflusst, zeigt eines seiner letzten, für ihn ungewöhnlich großen (130 x 100 cm) Bilder: »Time, Gentlemen, Please«, entstanden 1971/1972. Das ist ein Porträt des Künstlers als alter Mann, den nur noch ein Schritt vom Jenseits trennt: ein Feuerwerk explodierender Farben, eine vitale Versöhnung mit dem Tod. Der »Oberwildling« Oskar Kokoschka spürte, dass sein Leben zu Ende geht. Doch seine Kunst wird alle diesseitigen Moden überleben, denn sie ist das Werk eines großen Meisters.

Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff
Erschienen im strassen|feger 13, Juni 2014


Oskar Kokoschka, Humanist und Rebell, Hirmer, 2014Oskar Kokoschka
Humanist und Rebell

26.04.-17.08.2014

Kunstmuseum Wolfsburg
Hollerplatz 1
38440 Wolfsburg

Dienstag bis Sonntag
von 11 bis 18 Uhr

Eintritt 8 / 5 Euro