Es weht ein frischer Wind durch die Gemächer der ehrwürdigen Deutschen Oper Berlin. Alles gerät in Bewegung und wirbelt tradierte Vorstellungen von der Inszenierung eines veristischen Musiktheaterstücks durcheinander. Die größte Bühne der Bundesmetropole rotiert, flankiert von einem dreiteiligen magentafarbenen und zackigen Rahmen, der nicht ohne Grund wie ein Triptychon aussieht. Im Hintergrund steht auf der rechten Seite ein imposanter violetter Fels, auf der linken eine Treppe, die ins Nichts oder vielleicht in den Himmel führt. Er ist manchmal mit unheilverkündenden Wolken verhangen, dann wiederum erstrahlt er mild und hell in Pastell, um die Dramatik oder Lyrik der Performance zu untermalen. Gemimt wird dieses bunte Spektakel unter dem Titel »Il trittico« von einem mit vielen Talenten gesegneten Ensemble, das großartig singt, schauspielt und sogar in pantomimischen Einlagen glänzt. Und vor allem viel Spaß daran hat, unter der Regie von Pinar Karabulut in den Kostümen von Teresa Vergho und den fantastischen Landschaften der Szenografin Michaela Flück ihr Bestes zu geben.
Zwei Tragödien und eine Komödie
»Il trittico« von Giacomo Puccini (* 22. Dezember 1858 in Lucca; † 29. November 1924 in Brüssel) ist sein letztes vollendetes Werk, das aus drei jeweils eine Stunde dauernden Opern besteht. Den Anfang macht »Il tabarro« (Der Mantel), eine tragische Dreiecksgeschichte, die Anfang des 20. Jahrhunderts in Paris spielt. Sie endet mit dem Tod des Löscharbeiters Luigi, den Geliebten von Giorgetta, den ihr Mann, der Schiffer Michele erwürgt. Der mittlere Trittico-Teil, »Suor Angelica«, ist im ausgehenden 17. Jahrhunderts angesiedelt und in Italien verortet. Angelica wurde ihres unehelichen Kindes wegen von ihrer adeligen Familie in ein Frauenkloster unweit von Siena verbannt, wo sie seit sieben Jahren wohnt, das Leben in der Gemeinschaft und die Arbeit im Kräutergarten genießt. Eines Tages wird sie von ihrer Tante, Fürstin Zia, besucht, die von der Nichte erwartet, dass sie auf ihr Erbe zugunsten ihrer Schwester, die heiraten möchte, verzichtet. Als sie nach ihrem Kind fragt, erfährt sie von der Fürstin, es sei schon vor längerer Zeit gestorben. Die Tante macht sich mit der Verzichtserklärung davon, Angelica bringt sich mit einer Mixtur aus giftigen Pflanzen um. Das Triptychon endet mit »Gianni Schicchi«, wie der der Hauptprotagonist, ein wahrer Antihelden, heißt.
Schicchi von Alighieri und Puccini
Während die beiden ersten Einakter zum Genre der tragischen Oper gehören, ist der dritte Teil eine Opera buffa (die 1299 in Florenz spielt), zu der der Komponist und sein Librettist Giovacchino Forzano von einer Episode aus Dante Alighieris »La Divina commedia« inspiriert wurden. Darin gibt sich Gianni Schicchi als der gerade verstorbene Buoso Donati aus und fälscht dessen Testament, um zu verhindern, dass sein ganzes Vermögen an ein Kloster geht. Die Uraufführung des »Trittico« in der von Puccini vorgegebenen Reihenfolge fand am 14. Dezember 1918 an der Metropolitan Opera in New York City statt und wurde von Besuchern und Kritik positiv aufgenommen. Am 11. Januar 1919 wurde »Das Triptychon« im Teatro Constanzi in Rom gezeigt. Besonderer Popularität erfreute sich Gianni Schicchi und seine gierige Verwandtschaft. Noch heute gehört die von Schicchis Tochter Lauretta gesungene Arie »O mio babbino caro« (O, mein geliebter Papilein) zu den bekanntesten klassischen Gassenhauern, sodass der letzte Opernteil meistens als Einzelwerk aufgeführt wird.
Pop-Oper im Playmobil-Puppenhaus
Die 36-jährige Theaterregisseurin Pinar Karabulut bringt alle drei Teile von Verdis »Il trittico« auf die große Bühne der Deutschen Oper Berlin. Sie hält sich nicht an die Zeit- und Ortsangaben, lässt den Anfang und die Mitte des Triptychon nacheinander und ohne Pause ablaufen, in die sie das Publikum erst danach entlässt. Auf der visuellen Ebene schöpf ihre Inszenierung aus dem Fundus der Popkultur. Die Trittico-Truppe trägt Lackmäntel, Bodysuits, Latzhosen, verrückte Kleider und Schuhe in coolen Farben. Die Häupter der Mitwirkenden schmücken Rokoko-Perücken oder eigenes bizarr frisiertes Haar. Angelica und ihre Schwestern, die in einem Kloster, der wie ein weiblicher Garten Eden anmutet, sehen wie Hybriden aus Teletubbies und Biene Maja samt Verwandtschaft aus. Auf ihren Köpfen thronen seltsame Kronen, die wie ein Mix aus Mitra, Halbmond und Heilgenschein wirken. Auch vor ihren plissierten Halskrausen muss sich niemand grausen. Das Bühnenbild erinnert an ein Playmobil-Puppenhaus mit Planschbecken (was wohl eine Anspielung auf die Seine oder einen Teich sein soll) und Papierfeuer, wo die Figuren wie in einer Commedia dell’arte oder Opera dei pupi, also mit maskenhaft geschminkten Konterfeis oder nach Art der Marionetten agieren.
Die Vehemenz der Existenz
Manchmal entsteht der Eindruck, einem Comic, der auf der Bühne zum Leben erweckt wird, beizuwohnen. Der Lichtdesigner Carsten Rüger verpasst diesem nicht immer dezenten Ambiente und der sich darin tummelnden himmlischen oder höllischen Heerscharen passendes Licht, sodass das Publikum eine ziemlich klare Sicht auf das Geschehen behält. Pinar Karabulut und ihrem gut eingespielten, konsequent geführten Ensemble gelingt es, in der Verpackung einer Pop-Oper, welche sich an der Grenze von Kitsch und Klamauk bewegt, ohne sie zu überschreiten, die immer noch gültigen Fragen von Vehemenz und Existenz aufzuwerfen: die destruktive Macht der Liebe, Eifersucht, Untreue, Tod, Verlust, Schmerz, Ausgrenzung, Rücksichtslosigkeit, Heuchelei, die Utopie eines idyllischen, selbstbestimmten freien Lebens – und die Gier, die so geil macht, dass aus den (ihrer Meinung nach) um ihr Erbe Betrogenen willfährige und skrupellose Betrüger werden. Puccinis Triptychon in der Inszenierung von Pinar Karabulut führt auf eine fast schon beiläufige Weise vor, dass es möglich ist, die Unzulänglichkeiten der menschlichen Natur und der zwischenmenschlichen Beziehungen zu kritisieren, ohne dabei zu moralisieren. Auch das Orchester unter dem Dirigat von John Fiore, der für den verhinderten Sir Donald Runnicles kurzfristig einsprang, trug zum Gelingen der Uraufführung bei. Es klang harmonisch, hatte genau die richtige Lautstärke und ein feines Fingerspitzengefühl, begleitete die Sängerinnen und Sänger behutsam und souverän, ohne sie zu übertönen oder anderweitig zu überfordern. Der Chor unter der Leitung von Jeremy Bines und der von Christian Lindhorst geleitete Kinderchor waren, wie von ihnen gewohnt, auch diesmal ein Fest fürs Auge und Ohr.
Exorbitant, brisant, frappant
Der Erfolg unter dem Titel »Il trittico« an der Deutschen Oper Berlin hat viele Mütter und nicht wenige Väter. Lange in Erinnerung bleibt vor allem die Strahlkraft der Stimmen, die in vielen Fällen exorbitante Bühnenpräsenz und die frappante Wandlungsfähigkeit der Sängerinnen und Sänger, welche, wie zum Beispiel die Mezzosopranistin Annika Schlicht, die Sopranistin Mané Galoyan (wow, wie schön es klingt, wenn sie die Arie der Lauretta »O mio babbino caro« singt), der Bariton Misha Kiria und der lyrische Tenor Andrei Danilov, welche sowohl in tragischen als auch in komischen Rollen für Begeisterung sorgen. Unvergesslich auch die brisante Performance der Mezzosopranistin Violeta Urmana als Fürstin Zia. Sie trägt eine rote Robe mit aufgedruckten Totenköpfen, hat streng nach hinten gekämmtes graues Haar und hält einen roten Stock in der Hand. Sie ist eine singende Domina und Lady Lucifer in einer Person. Und das in einem paradiesischen Fantasieland, wo die Schwesternschaft immerwährend gedeihen und erblühen könnte, hätte es die dämonische Principessa nicht heimgesucht.
»Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate!«, mahnt von Zeit zu Zeit ein Neon-Zitat an der Bühne hinterer Wand. Es bezieht sich auf »Die Göttliche Komödie« von Dante Alighieri, konkret auf die Inschrift auf dem Tor zur Hölle. »Lasst, die Ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!«, lautet die deutsche Übersetzung. Doch das tapfere Publikum kommt bestimmt wieder, denn in der Oper singen auch Höllenfiguren ach so schöne Lieder.
Text & Fotos ©Urszula Usakowska-Wolff
IL TRITTICO
IL TABARRO – SUOR ANGELICA – GIANNI SCHICCHI: Ein Operntriptychon von Giacomo Puccini
Premiere an der Deutschen Oper Berlin am 30. September 2023
Nächste Vorstellungen: 09.12., 14.12.2023 um 19:30 Uhr
Deutsche Oper Berlin, Bismarckstraße 35, 10627 Berlin