Manfred Wolff und ich haben uns vor 38 Jahren kennengelernt und verbrachten seitdem die meiste Zeit miteinander. Wir hatten beide ein Faible für Literatur, Kunst, Musik und Theater, übersetzten polnische Bücher, engagierten uns für die deutsch-polnisch jüdische Verständigung, halfen Menschen, die verfolgt wurden, in Not gerieten oder zu schwach waren, um mit den Widrigkeiten des Lebens allein fertig zu werden.
Manfred Wolff hatte trockenen Humor und trank trockenen Rotwein, bevorzugt aus Sizilien. Er kannte unzählige jüdische Witze. Seine zweite Heimat war Israel und später auch Polen, woher ich, eine Warschauerin, stamme. »Wenn man heiratet, heiratet man nicht nur die geliebte Frau, sondern auch das ganze Land«, meinte er.
Manfred war verspielt und pragmatisch, heiter, ironisch und melancholisch, ernst und amüsant, elegant, aufgeräumt und manchmal auch etwas chaotisch. Er war ein politischer Mensch und ein kritischer Geist, der sich von den Autoritäten nicht blenden ließ.
Auch seiner Partei – der SPD – sparte er, vor allem in den letzten Jahren, nicht an Kritik, und scheute sich nicht, sie öffentlich zu äußern. Trotzdem hielt er der SPD 60 Jahre lang die Treue und sollte dafür zusammen mit anderen langjährigen Genossinnen und Genossen am 15. September 2023 geehrt werden. Die Feier in einem Berliner Restaurant fand leider ohne ihn statt.
Mein Mann war ein Zweifler. Er identifizierte sich mit der Figur, die er im Frühsommer 1962 im Straßburger Münster entdeckte und so beschrieb: »Hoch über den gaffenden Massen, auf einer Chortribüne, saß er und blickte herunter. Ich blickte zu ihm hinauf, und es schien mir, als zwinkerte er mir einverständlich zu. Ich wusste, ich hatte einen Freund gewonnen«, schrieb Manfred über diese Begegnung. »Man erzählte mir seine Geschichte. Es sei ein Ratsherr, der beim Bau des Münsters bezweifelte, ob dieser Pfeiler des Jüngsten Gerichts, gemeinhin Engelspfeiler genannt, mit seiner filigranen Auflösung des tragenden Elements das schwere Gewölbe des Südflügels würde tragen können. Zur Strafe für seinen Zweifel am Können der Experten sei er versteinert auf die Chortribüne verbannt worden und müsse dort nun so lange ausharren, wie der Pfeiler seinen Dienst verrichtet. Niemand kennt seinen Namen. Er ist einfach der Zweifler. Zweifler sind gewiss nicht beliebt. Sie stören den ruhigen Schlaf der Gewissen, ihre Betriebsamkeit, die sich so harmonisch im Kreise dreht, sie sind ein Ärgernis den Zufriedenen. In der Regel können Zweifler den von ihnen vermuteten Fortschritt nicht selbst erzielen, deshalb bleiben sie ungenannt in den Geschichtsbüchern. Zweifler sind das Ärgernis der Gegenwart.«
Manfred Wolff war skeptisch und tolerant. Er verzieh den Menschen ihre Unzulänglichkeiten und Marotten. Was er nicht verzieh, waren Heuchelei, Opportunismus, Arschkriecherei und Niedertracht. Er nahm sich immer die Freiheit, seine Meinung deutlich zu sagen, was ihm selten Vorteile brachte: »Wat mutt, dat mutt!«, davon war er überzeugt. Er hatte eine wohltuende Distanz zu sich selbst und zu den anderen. Er ließ sich selten aus der Fassung bringen, denn er meinte, dass man die Konflikte im Alltag und Berufsleben nicht mit einem Stilett, sondern mit einem Florett ausfechten sollte. Und er hielt sich immer daran. Auch in schwierigen Situationen verlor er nicht den Optimismus. Da pflegte er seine Oma zu zitieren: »Wer weiß, wozu es gut ist?«
Er liebte die Oper, sang als Student in Freiburg im Breisgau im Chor von »Nabucco«, spielte im Studententheater den Feuerwehrmann in Ionescos »Die kahle Sängerin«. Er hatte viel Sinn für das Absurde und Groteske auch außerhalb der Bretter, die die Welt bedeuten.
Da er aus dem Braunschweiger Land stammte, fühlte er sich der Tradition von Till Eulenspiegel verpflichtet und spielte so manche lustige Streiche. Einer seiner Lieblingssprüche war jedoch der von Horaz: »Lieber einen Freund verlieren als einen guten Witz.« Oder eine überraschende Pointe.
Manfred wurde am 9. Januar 1941 in Braunschweig als Frühchen geboren. Er wog nur 800 Gram. Vorsorglich ließ ihn seine Mutter Elisabeth nottaufen. Er hatte aber Glück und überlebte, weil er als erstes frühgeborenes Baby in Braunschweig in einen Brutkasten kam. Nachdem er dort aufgepäppelt wurde, wurde er erneut von einem evangelischen Pastor getauft. Manfred sagte: »Ich bin wohl einer der wenigen Menschen, die ihr Gewicht verhundertfachten.«
Manfred Wolff wuchs in Schöningen im Kreis Helmstedt auf. Seine erste Sprache war Plattdeutsch – und er hat sie nie vergessen. Immer wieder las er Fritz Reuter, den Dichter und Schriftsteller, einen der Mitbegründer der neueren niederdeutschen Literatur. Das schriftliche Abitur am Gymnasium Anna Sophianeum in Schöningen bestand er (selbstverständlich auf Hochdeutsch) so gut, dass er von der mündlichen Prüfung befreit wurde.
Weil er Lehrer für Latein und Altgriechisch werden wollte, worauf er als weiser Mensch im Nachhinein verzichtete, studierte er klassische Philologie, Geschichte, Philosophie und Pädagogik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und an der Georg-August-Universität Göttingen.
Während des Studiums absolvierte er ein halbjähriges Praktikum in der Heimvolkshochschule Frankenwarte in Würzburg. Er war auch in der Entwicklungshilfe tätig, unter anderem in Tunesien und Burkina Faso.
Als Stipendiat des evangelischen Studienwerks Villigst wohnte er während seines Studiums zwei Jahre lang auf dem Turm der Göttinger Rats- und Marktkirche St. Johannis. Zu seiner Wohnung führten 250 Stufen … Das heißt 500 Stufen rauf und runter!
Sein Studium schloss Manfred Wolff Anfang 1969 als Magister Artium (M.A.) ab. Danach arbeitete er als Jugendbildungsreferent im Deutschen Volkshochschulverband in Traunreut und Bremerhaven.
Von 1975 bis 1980 war er als Dozent an der Zivildienstschule Ith bei Holzminden tätig. Von 1982 bis zu seiner Pensionierung 2004 leitete er die Zivildienstschule Bad Oeynhausen in Ostwestfalen.
Obwohl Manfred Wolff seine Heimatstadt gleich nach dem Abitur verließ, hat ihn Schöningen nie verlassen. Als Schöninger Patriot las er jeden Morgen als erstes Nachrichten aus Schöningen am PC. Er war ein Fan des FSV Schöningen. Er verfolgte immer seine Spiele und kommentierte sie wohlwollend und manchmal kritisch auf Facebook.
Er hielt Kontakt zu seinen Klassenkameradinnen und Kameraden, fuhr zu alljährlichen Klassentreffen und stoß einige Initiativen an, die vor allem auf die jüdischen und polnischen Opfern in Zeiten des Zweiten Weltkriegs in Schöningen aufmerksam machen sollten, damit ihr Leid und ihre Namen nicht in Vergessenheit geraten.
Im September 1985 lernte ich Manfred Wolff im Hotel Fourati in Hammamet (Tunesien) kennen.
Ich arbeitete damals für eine Import-Exportfirma in Schwaz im Tirol, musste jede Woche von Schwaz nach Warschau und zurück mit dem Auto fahren und wollte einfach einen ruhigen, zweiwöchigen Urlaub in einem warmen und sonnigen Land verbringen.
Gleich am ersten Abend bin ich Manfred in der Bar des Hotels Fourati begegnet. Das war der Anfang unserer 38 Jahre währenden Liebe und Partnerschaft.
Manfred erzählte mir, dass ihm meine Stimme bereits bekannt war. In den Jahren 1980-1981 hörte er im Kurzwellenfunk den polnischen Auslandssender Radio Polonia, in dem ich damals arbeitete und wo meine Beiträge und Interviews über die Solidarność ausgestrahlt wurden.
Nach der Ausrufung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 wurde ich suspendiert und bald darauf entlassen. Somit verschwand auch meine Stimme aus dem Äther. Doch weil Manfred und ich füreinander bestimmt waren, trafen wir unverhofft vier Jahre später ausgerechnet in Tunesien aufeinander.
Wir heirateten am 30. März 1986 in Warschau. Ich zog Ende Mai 1986 nach Bad Oeynhausen.
Manfred und ich organisierten seit 1987 über 60 Ausstellungen zeitgenössischer polnischer Kunst und Volkskunst in vielen westdeutschen Städten, darunter in Herford, Münster, Hannover, Stadtlohn, Castrop-Rauxel, Düsseldorf, Merzig und später auch in Berlin.
Wir veranstalteten deutsch-polnisch-jüdische und kaschubische Kulturtage, unter anderem in Herford, Bad Nenndorf, Stadtlohn und Siegen, und übersetzten gemeinsam polnische Belletristik und Sachbücher, darunter etliche zum Thema Holocaust.
2009 veröffentlichte der Pop Verlag Ludwigsburg Manfred Wolffs Gedichtband »Gespräche mit niemand«.
Ende der 1970er Jahre fand Manfred bei der Auflösung des Haushalts der Eltern seiner ersten Frau in Berlin das in Sütterlin geschriebene ledergebundene Manuskript von 1904 unter dem Titel »Kriegsbriefe aus den Jahren 1870–1871«.
Sein Autor, Carl von Bülow, Oberleutnant aus Mecklenburg, schrieb seiner Gattin fast jeden Tag. Er berichtete ihr, was er in diesem Krieg erlebte, mit wem er zusammentraf, wo er sich aufhielt, wie er Landschaften und Wetter wahrnahm.
Dieses Buch mit einem persönlichen, in dieser Form einmaligen Blick auf den deutsch-französischen Krieg wurde Anfang 2020 im Pop Verlag veröffentlicht und sollte von Manfred auf der Leipziger Buchmesse präsentiert werden.
Dazu kann es nicht, denn der Corona-Pandemie wegen wurde die Leipziger Buchmesse 2020 abgesagt.
Für die Popularisierung der polnischen Kunst und Kultur und den Beitrag zur deutsch-polnisch-jüdischen Verständigung wurde Manfred Wolff mit dem Kavalierskreuz des Ordens der Wiedergeburt Polens, dem Pegasus-Preis der Warschauer Akademie der Künste (mit dem auch Umberto Ecco geehrt wurde) und dem Preis »Schafe Davids« des Krakauer Journalistenverbands ausgezeichnet.
Manfred Wolff lud in die Zivildienstschule Bad Oeynhausen wiederholt Zeitzeugen ein, darunter Kazimierz Niesiobędzki, einen der ersten Häftlinge des Konzentrations- und Vernichtungslagers Lublin-Majdanek, und Max Mannheimer, der Ausschwitz und Dachau überlebte und Vorsitzender des Dachau-Komitees war.
Mitte Mai 2006 zogen wir nach Berlin, wo Manfred sich in kurzer Zeit ehrenamtlich in der Obdachlosenarbeit engagierte.
Fast zehn Jahre lang schrieb er für die soziale Strassenzeitung strassenǀfeger Kolumnen unter dem Pseudonym KptnGraubär, und unter seinem Namen Texte über soziale, politische und Berliner Themen sowie über die Geschichte und das aktuelle Geschehen in Polen und Israel.
In Israel war er zwanzigmal, zuletzt 2015. Das Säckchen mit der Erde aus Jerusalem legte ich, laut Manfreds Wunsch, in sein Urnengrab.
Als der strassenǀfeger 2016 aufhörte, in der für uns vertretbaren Form zu existieren, suchte sich Manfred ein neues, ehrenamtliches Betätigungsfeld. Er war von 2017-2019 Mitglied der bezirklichen Seniorenvertretung in Berlin-Mitte.
Obwohl Manfred an vielen Krankheiten litt, ließ er sich von ihnen nicht entmutigen. Seit seiner Geburt wusste er, dass das Leben unter widrigen gesundheitlichen Bedingungen ein großes Durchhaltevermögen erfordert.
In den letzten fünf Jahren hatte Manfred immer größere Probleme mit dem Atmen. In diesem Frühling und Sommer blieb er meistens daheim.
Doch unsere Wohnung mit den Jugendstilmöbel seiner Großeltern, mit den vielen polnischen Gemälden und Grafiken, aus Holz geschnitzten Heiligen und Tierfiguren, den unzähligen Büchern, Duzenden von Pfeifen, Schleifen, Tabakdosen und anderen Dingen, fand er so schön, dass er sich nach der Außenwelt nicht besonders sehnte.
Auch wenn er an seinem Schreibtisch im Arbeitszimmer saß, trug er einen Anzug und eine dazu passende selbstgebundene Schleife. Durch das Fenster blickte er auf die große Linde, deren Zweige die Scheiben berührten. Im Frühling beobachtete er die dort nistenden Krähen.
Er war bis kurz vor seinem Tod aktiv, schrieb, dichtete, zeichnete und kochte. Er war voller positiver Energie und Lebensfreude. Am 30. August, also knapp zwei Wochen vor seinem Tod, ging er noch zum Friseur.
Er beklagte sich nicht über sein Schicksal, war frohen Mutes und gut gelaunt, lachte oft und scherzte.
Auch wenn er alles etwas langsamer machen und sich immer wieder eine Verschnaufpause gönnen musste, meisterte er bis zuletzt vorbildlich den Alltag.
Auf die Teilnahme am Kulturleben wollte er bis zuletzt nicht verzichten.
So waren wir am 9. Juni in der Deutschen Oper Berlin, um die Uraufführung »Il Teorema di Pasolini« von Giorgio Battistelli zu sehen. Manfred schrieb dazu eine Kritik, die auf seinem und meinem Blog erschien.
Als er nicht mehr zu entfernten Zielen reisen konnte, machte ihn ein polnischer Freund auf ein kleines Hotel in Pobierowo an der polnischen Ostseeküste aufmerksam.
Die drei Aufenthalte dort zwischen Oktober 2022 und Ende Mai 2023 waren für Manfred eine unglaublich kreative Phase.
Er saß auf dem Balkon mit Blick auf eine Waldwiese oder ging im Wald spazieren – und schrieb etliche Limericks sowie über 60 Haikus! Ein Haiku ist eine extrem knappe, aus Japan stammende 17-silbige lyrische Form.
Mein Mann hatte schon immer eine Vorliebe für kurze Texte. Seine bestanden in der Regel aus 4.000 Zeichen. Doch vor zwei Jahren begann er, einen Roman zu schreiben, den er einen Monat vor seinem Tod fertigstellte.
»Ein Stück Holz« ist eine spannende Geschichte, die sich um eine Reliquie dreht, in er das DNA des Heilands nachgewiesen wird. Sie endet, wie bei Manfred so oft, mit einer überraschenden Pointe. Ich hoffe, dass das Buch veröffentlicht werden kann.
2010 gab Manfred das Rauchen auf, weil es seiner Gesundheit immer mehr schadete. Als Genussmensch begann er, Tabak zu schnupfen.
Ein leidenschaftlicher Tabakschnupfer war auch Friedrich Schiller. Das war aber nicht der einzige Grund, warum mein am 10. September 2023 in Berlin verstorbener Mann Manfred Wolff sich wünschte, dass die letzten Worte der Schlussszene von „Don Karlos“ am Ende seiner Trauerfeier zitiert werden.
Sie lauten: »Ich habe / Das Meinige getan. Tun Sie das Ihre.«
Text & Fotos © Urszula Usakowska-Wolff